In der zweiten Jahreshälfte 2021 haben praktisch alle europäischen Länder die Maßnahmen zur Impfung gegen COVID-19 verschärft. In Frankreich, zum Beispiel, ist die Impfung für alle Angestellten im Gesundheits- und Sozialwesen verpflichtend. Wenn sie sich weigern, können sie suspendiert werden. In Italien ist der Zugang zu jedem Arbeitsplatz an einen GreenPass gebunden. Dies ist das Äquivalent zu der Regelung, die wir in der Slowakei als OTP (geimpft/getestet/genesen) kennen. Ungeimpfte italienische Arbeiter*Innen müssen für jeden Test, der fünfzehn Euro kostet, selbst aufkommen. Seit Anfang Dezember ist für eine Reihe von Freizeitaktivitäten (z. B. Restaurants, Kinos usw.) der so genannte Super GreenPass (in der Slowakei: die OP-Regelung) erforderlich. Über die Ausweitung dieser Vorschriften auf Arbeitsplätze wird derzeit diskutiert. In Deutschland gilt beim Betreten bestimmter Einrichtungen die 2G- (geimpft/genesen, d. h. geimpft/erholt von COVID-19) oder 2G+-Regelung (geimpft/genesen und getestet). Der deutsche Bundestag hat Anfang Dezember ebenfalls eine Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen beschlossen, die bis März 2022 abgeschlossen sein soll. In Österreich soll die Impfung ab dem 1. Februar unter Androhung von Geldstrafen für alle verpflichtend werden. Immer mehr Länder kündigen ähnliche Schritte an.
Die Verschärfung der Maßnahmen löste eine neue Protestwelle in Europa aus, an der sich Tausende bis Zehntausende von Menschen beteiligen. Wir werden hier keine Zeit mit dem sichtbarsten Teil dieser „Bewegung“ und mit ihren Parolen von einer „Plandemie“ und eines „Völkermords“ verschwenden. Wir werden auch nicht viele Verbindungen zwischen diesen Protesten und der extremen Rechten untersuchen. Wir stellen lediglich fest, dass die neue Situation Anfang 2020 die Faschisten und Protofaschisten zwar zunächst überrascht hat, sie aber schnell damit zurecht gekommen sind. Sie haben dann einfach ihr Programm der radikalen Solidaritätsverweigerung, das während der „Migrationskrise“ so gut funktioniert hatte, zusammen mit der bewährten Taktik der moralischen Panik („Hände weg von unseren Kindern!“) auf die Bedingungen der Pandemie angewandt. Heute dominieren diese Kräfte in mehreren Ländern, auch in der Slowakei, die Protestbewegungen.
Aber auch einige Arbeiter*Innenorganisationen haben sich gegen die Impfpflicht im Gesundheitsbereich oder gegen Gesundheitskontrollen am Arbeitsplatz ausgesprochen, so zum Beispiel die französische Gewerkschaftsgruppe SUD, die italienischen radikalen Gewerkschafter von S.I. Cobas, die britische Unite und andere. Um Druck auf die Regierungen auszuüben, organisierten sie im Sommer und Herbst Demonstrationen und andere Aktionen, die gemischten Anklang gefunden haben. Die wohl größte Aufregung verursachten die Ereignisse in Italien, wo Tausende von Arbeiter*Innen kurzzeitig den wichtigen Hafen von Triest blockierten und die Abschaffung des GreenPass-Systems forderten. Ihr Protest führte bei mehreren Unternehmen zu vorübergehenden Lieferproblemen, konnte aber die Entscheidung der Regierung nicht umstoßen.
Auch verschiedene esoterische und faschistische Strömungen oder Kleinunternehmer*Innen, die ihre spezifischen Brancheninteressen verfolgen, sind bei derartigen Protesten präsent. Es hat sich aber auch eine Art „Arbeiter*Innenopposition“ gebildet. Ohne die Restriktionen als solche abzulehnen, kritisiert sie deren repressiven Charakter und soziale Folgen. Sie sieht die aktuellen Strategien als Teil des umfassenden Versagens der Staaten beim Schutz der öffentlichen Gesundheit seit Beginn der Pandemie und ordnet sie in eine längere Geschichte der Sparmaßnahmen und des Abbaus des öffentlichen Sektors ein. Gleichzeitig versucht sie, sich von konspirativen „Erklärungen“ und der extremen Rechten zu distanzieren.
Im Moment (Januar 2022) scheint die Stimme dieser Tendenz – zumindest teilweise aufgrund von Repressionen – verstummt zu sein, selbst in Italien, wo sie am stärksten war. Die Ereignisse lösten jedoch intensive Debatten in der radikalen Linken aus.1 Einige der in diesen Debatten geäußerten Ansichten neigten dazu, die Proteste zu unterstützen, und ihre Befürworter*Innen führten viele Argumenten an, um diese Unterstützung zu rechtfertigen.
Wir sind der Meinung, dass diese Ansichten falsch sind und dass die Argumente nicht belastbar sind. In diesem Text gehen wir zunächst auf vier Thesen von den Verfechter*Innen dieser Ansichten ein. Unter anderem setzen wir uns mit der Behauptung auseinander, dass die Betonung des Impfens seitens des Staates eine Abwälzung der Verantwortung „auf den Einzelnen“ bedeutet. Wir kritisieren auch die Ansicht, dass die Befürwortung von Impfungen als Mittel zum Schutz der Gesundheitssysteme vor dem Zusammenbruch eine Bejahung der Sparpolitik bedeutet, die für die geringen Kapazitäten der Gesundheitssysteme überhaupt verantwortlich ist. Später gehen wir auf eine weitere These ein, dass es bei den Maßnahmen und Kampagnen zur Erhöhung der Impfraten nicht in erster Linie um den Schutz der öffentlichen Gesundheit geht, sondern um die Repression oder die Profite der Pharmaunternehmen. Schließlich argumentieren wir gegen die Vorstellung, dass die Proteste gegen die Maßnahmen eine politische Chance für die Arbeiter*Innenklasse darstellen.
Wir sind der Ansicht, dass es nicht im Interesse der Arbeiter*Innenklasse ist, gegen strengere Maßnahmen im Zusammenhang mit Impfungen als solchen aufzutreten. Diese Position wird im zweiten Teil des Textes begründet. Wir sind der Meinung, dass es nützlich wäre, Covid als Analogie zu den Risiken, denen die Arbeiter*Innen in den Arbeitsstätten ausgesetzt sind, zu betrachten. Daher sollten die politischen Positionen der radikalen Linken zu epidemiologischen Maßnahmen und Impfungen die historischen Erfahrungen widerspiegeln, die die Arbeiter*Innen in ihren Kämpfen für sicherere Arbeitsbedingungen und Gesundheitsschutz im Allgemeinen gesammelt haben. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte ist es auch möglich, die aktuellen Aktionen der Kapitalisten, deren Verbände und des Staates besser zu verstehen.
Manch einer mag denken, dass wir uns darüber zu sehr den Kopf zerbrechen – schließlich ist dies nur eine Ausnahmesituation, die vorübergehen wird. Das ist jedoch keineswegs sicher. Die Pandemie dauert nun schon seit zwei Jahren an und hat die ganze Welt in ein Labor für SARS-CoV-2-Mutationen verwandelt. Es ist zu erwarten, dass weitere Varianten auftauchen werden, die vielleicht weniger gefährlich sind, vielleicht aber auch nicht. Darüber hinaus schafft die anhaltende Plünderung von Land und Ökosystemen die Voraussetzungen für die Übertragung neuer Krankheitserreger von Tieren auf Menschen und das Auftreten neuer Pandemien. Daher können Fragen des Verhältnisses der Arbeiter*Innenklasse zur Wissenschaft, zum Staat, zu Präventivmaßnahmen und deren Durchsetzung in der ferneren Zukunft von Bedeutung sein. Darüber hinaus halten wir es für notwendig, auf einige der oben erwähnten Stimmen in der Debatte einzugehen. Um sich den Protesten und ihrer Rhetorik anzunähern, scheinen sie sich von materialistischen Positionen zurückzuziehen und eine breitere soziale Perspektive zugunsten des Individualismus aufzugeben.
Die Diskussionen über die Demonstrationen in Italien und die sich daraus ergebenden allgemeineren Fragen sind über verschiedene Medien und Kanäle, einschließlich privater Mitteilungen, verstreut. Wir werden daher die von uns als problematisch angesehenen Positionen in komprimierter Form zusammenfassen. Die folgenden vier Thesen fassen unserer Ansicht nach die Grundzüge des von uns abgelehnten Ansatzes gut zusammen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass jemand diese Thesen jemals in dieser Form aufgestellt hat. Vielleicht gibt es nicht einmal jemanden, der alle vier Thesen vertritt, aber jede von ihnen hat ihre Befürworter*Innen, und wir sind in den Diskussionen auf sie gestoßen.
„Die Staaten haben auf die Impfung als einzige Strategie gesetzt. Diese ist jedoch mit erheblichen Problemen behaftet oder wirkt nicht wirklich, da sich auch Geimpfte infizieren und das Virus übertragen können. Indem die Staaten auf die Impfung setzen, verlagern sie die Verantwortung für Gesundheit und Sicherheit auf den Einzelnen/die Einzelne. Damit lenken sie von dem schlechten Zustand des Gesundheitswesens ab und decken die Kapitalisten, die für die Sicherheit am Arbeitsplatz verantwortlich sein sollten.“
Seit Beginn der Pandemie wurden Hoffnungen auf eine Eindämmung der Pandemie mit dem Impfstoff verknüpft: So rechneten slowakische Medien Ende 2020 mit einer schnellen Impfkampagne und der Abschaffung aller anderen Maßnahmen bereits im Frühjahr 2021. Wie wir wissen, haben sich diese Hoffnungen aus verschiedenen Gründen nicht erfüllt. Dies gilt nicht nur für die Slowakei und andere Länder mit niedrigen Impfraten. Es ist nun klar, dass die Immunisierung der Bevölkerung mit einer vollen Dosis (aus damaliger Sicht) der verfügbaren Impfstoffe für eine „Rückkehr zur Normalität“ nicht ausreichen wird.
Die Behauptung, die Staaten hätten sich auf Kosten anderer Maßnahmen auf die Impfung konzentriert, trifft jedoch nicht zu, zumindest nicht flächendeckend. Viele europäische Länder haben andere Maßnahmen beibehalten, darunter Maskenpflicht, Begrenzung der Personenzahl in Innenräumen und soziale Distanzierung. Die Desinfektionsmittelspender und Plexiglasscheiben, an die wir uns in Geschäften und am Arbeitsplatz gewöhnt haben, sind nicht verschwunden. Auch nach Beginn der Impfungen hat der Contact Tracing nicht aufgehört. Im Großen und Ganzen hat die Impfung andere Maßnahmen nicht ersetzt, sondern ist vielmehr dazugekommen. Mit dem Aufkommen der neuen Variante wurden die ursprünglichen Maßnahmen – einschließlich der Ausgangsbeschränkungen – in mehreren Ländern wieder verschärft, auch für geimpfte Personen.2
Die erste These ist jedoch im engeren Sinne zutreffend: Die Impfung stand im Mittelpunkt der staatlichen Strategien. Dafür gibt es allerdings gute Gründe. Derzeit ist die Impfung mit einer Auffrischungsdosis der beste Weg, um schwere Erkrankungen, Tod oder Langzeitfolgen zu verhindern – und aktuelle Studien legen nahe, dass dies auch für die Omicron-Variante gilt. In Umkehrschluss kommen die andere Arten von Interventionen oder die Rückverfolgung von Kontakten bei dieser ansteckenderen Variante an ihre Limits.3 Außerdem sind die Impfstoffe, nach allem, was wir bisher über sie wissen, äußerst sicher. Dies gilt nicht ganz für neue Therapeutika wie Molnupiravir, Sotrovimab oder Paxlovid, die auf Basis aus Tierversuchen gewonnener Erkenntnisse, nicht für schwangere Frauen oder Kinder unter 12 Jahren zur Verfügung gestellt wurden.
Natürlich hatten die Staaten oder Interessenvertretungen der Wirtschaft ihre eigenen Gründe, die Impfung als Ausweg aus der Pandemie zu betonen: Sie verhindert weitere Lockdowns und wirtschaftliche Schäden. Aber wie wir schon in einem früheren, kürzeren Text geschrieben haben,
„dies bedeutet jedoch keineswegs, dass [die Impfung] den Interessen der Arbeiter*Innen zuwiderläuft. Das Kapital ist an Arbeit als Ware interessiert, die billig eingekauft und effizient ausgepresst werden muss – und nur in diesem Zusammenhang ist es um den Schutz ihrer Qualität besorgt. Aber für die Arbeiter*Innen ist die Ware „Arbeitskraft“ untrennbar mit ihrem eigenen Körper verbunden. Gegen Impfungen und andere Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens zum Schutz der Gesundheit von Arbeiter*Innen zu protestieren, ist so, als würde man Schutzhandschuhe beim Schweißen ablehnen, weil der Chef sie verordnet hat.“
Ja, die Vorstellung, dass Impfstoffe der Pandemie ein Ende bereiten werden,4 war ein Wunschdenken. Wir können sogar vermuten, dass die Staaten absichtlich übertrieben haben, als sie den Impfstoff als endgültige Lösung anpriesen – sei es, um eine zunehmend ungeduldige Bevölkerung zu beruhigen oder um günstige Stimmung der Märkte zu wecken. All dies ändert jedoch nichts an den grundlegenden Fakten über die Impfstoffe und ihrer Wirksamkeit. Eine Situation „Vollimpfung + andere Maßnahmen“ ist in jeder Hinsicht besser als eine Situation „nur andere Maßnahmen“. Wenn man der Meinung ist, dass sich die Staaten zu sehr auf die Impfung konzentriert und andere Maßnahmen vernachlässigt haben (z. B. das verpflichtende Home-Office, wo es möglich ist; die obligatorische Tests oder Quarantäne auch für geimpfte Kontaktpersonen), sollte man für deren Durchsetzung kämpfen – und sich nicht auf die Seite der Impfverweiger*Innen stellen.5
Gerade das ständige Hinweisen, dass „zwei Dosen doch nicht ausreichen“ oder das Gejammer, dass „schon von einer vierten und fünften Dosis die Rede ist“ – als ob damit die Bedeutung der Impfung als solche irgendwie in Frage gestellt würde – bringt die Verfechter*Innen der ersten These eher in die Nähe des Anti-Vaxxer-Lagers. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es nicht verwunderlich, dass ein Impfstoff keine sterilisierende Immunität (d.h. vollständige Resistenz gegen Infektionen) verschafft. Letzteres ist bei Impfungen im Allgemeinen eher die Ausnahme. Die am häufigsten verwendeten Impfstoffe bieten zwar Immunität gegen (schwere) Krankheiten, aber keinen 100%-igen Schutz gegen Infektionen.6 Auch Mehrfachimpfungen stellen keine Besonderheit dar. In dieser Hinsicht sind das neue Coronavirus und seine Varianten vielleicht am ehesten mit einem anderen Atemwegsvirus, der Grippe, vergleichbar. Auch hier bietet die Impfung keinen Schutz vor einer Infektion und muss wegen des Auftretens neuer Mutationen jährlich wiederholt werden.
Was uns bei den Debatten rund um die Proteste am meisten auffiel, war die Abkehr von wissenschaftlicher Argumentation durch einige Linke. Ein Beispiel ist das Argument, dass die Zahl der geimpften Menschen, die in Krankenhäusern oder auf Intensivstationen liegen, beweist, dass die Impfstoffe nicht ausreichend wirksam sind. Diese Auffassung beruht auf einem elementaren statistischen Irrtum: Wir sollten uns nicht auf den relativen Anteil der Geimpften und der Ungeimpften an allen Hospitalisierten konzentrieren. Was zählt, ist das relative Risiko einer Krankenhauseinlieferung aufgrund von COVID-19, wenn man geimpft oder ungeimpft ist. Es ist also der Anteil der Geimpften, die aufgrund von COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert werden (nicht nur positiv getestet), an allen Geimpften, und der Anteil der Ungeimpften, die (aufgrund von COVID-19) ins Krankenhaus eingeliefert werden, an allen Ungeimpften. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass nach den vorangegangenen Infektionswellen der Anteil der Menschen mit einem völlig „naiven“ Immunsystem zurückgegangen ist: ein Teil der Ungeimpften und nicht ausreichend Geimpften hat die Krankheit bereits überwunden und ist somit zumindest teilweise und vorübergehend geschützt. Darüber hinaus spielt auch die ungleiche Durchimpfungsrate zwischen den verschiedenen Gruppen eine Rolle: Ältere und kränkere Menschen, die daher im Allgemeinen stärker gefährdet sind, haben in der Regel höhere Raten. Berücksichtigt man diese Faktoren, spricht die Beweislage eindeutig für Impfungen. Auch hier gilt: Ein zumindest teilweiser Impfschutz ist in jeder Hinsicht besser, als ungeimpft zu bleiben. Natürlich ist niemand ein Experte oder eine Expertin für alles – aber wenn wir die Situation politisch erfassen wollen, können wir auf die grundlegenden Fakten und Prinzipien nicht verzichten.
In der Argumentation, mit der wir uns hier befassen, wird oft behauptet, dass die staatliche Politik eine Abwälzung der Verantwortung „auf das Individuum“ bedeute. Wir verstehen die rhetorische Absicht: Wenn dies zuträfe, könnte die Strategie der Staaten während der Pandemie als direkte Fortsetzung der Austerität, der Kürzungen bei den öffentlichen Dienstleistungen und der „Neoliberalisierung“ des Gesundheitswesens interpretiert werden. Die Annahme liegt im Punkt Verantwortung jedoch falsch. Erstens ist die Impfung per Definition eine der wichtigsten Maßnahmen im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens, und sie ist vor allem deshalb sinnvoll, weil sie flächendeckend angewendet wird. Es handelt sich um die Verabreichung derselben Substanz in derselben Dosierung an Massen von Menschen, was das genaue Gegenteil einer „personalisierten Medizin“ ist. Die Entwicklung, Beschaffung und Verabreichung von COVID-19-Impfstoffen sowie die gesamte damit verbundene Infrastruktur wurde von Anfang an von den Staaten verwaltet oder zumindest finanziert und beaufsichtigt. Für den Einzelnen ist die Verabreichung des Impfstoffs kostenlos und in den entwickelten Ländern mit minimalen Problemen beim Zugang zu ihm verbunden.7
Das Wesen der Impfung ist grundsätzlich „kollektivistisch“, und dies gilt auch im Falle von Covid. Es stimmt, dass die Impfung in diesem Fall keine sterilisierende Immunität bietet und es unwahrscheinlich ist, dass sie zu der Art von Herdenimmunität führt, an die wir im Falle vieler anderer Infektionskrankheiten gewöhnt sind. Wenn jedoch die Auffrischungsimpfung zumindest einen gewissen Schutz vor einer Infektion mit der Omicron-Variante bietet,8 dann wird die Ausbreitung des Virus umso mehr eingedämmt, je mehr Menschen die Auffrischungsimpfung erhalten. Auch Personen, die noch nicht geimpft wurden oder die nicht geimpft werden können, sind etwas besser geschützt. Da die Impfung die Vermehrung des Virus in der Bevölkerung einschränkt, verringert sie auch die Wahrscheinlichkeit neuer Mutationen, einschließlich der potenziell gefährlicheren.9 Auch hier gilt, dass das Szenario, bei dem mehr Menschen die zugelassenen Impfstoffe in der erforderlichen Anzahl an Dosen erhalten, in jeder Hinsicht besser ist als das Szenario, bei dem weniger Menschen geimpft werden.
Aber was ist mit der individuellen Verantwortung? In einer Zeit, in der Pflichtimpfungen auf der Tagesordnung stehen und wir bereits mit verschiedenen anderen Formen des sozialen Zwangs konfrontiert sind (Pflichttests, Reisebeschränkungen usw.), ist dieses Gerede von der Individualisierung der Verantwortung einfach bizarr. Vielleicht war das so, als die Impfung auf bestimmte Altersgruppen beschränkt war, als Impfstoffe knapp waren (selbst in reichen Ländern) und ihre Verabreichung lediglich „empfohlen“ wurde. Was die Verantwortung des/der Einzelnen angeht, so war die Situation damals ähnlich wie bei der Grippe. Heute jedoch nähern wir uns bei Covid zunehmend einer Impfpflicht, wie sie für Tetanus und ähnliche Infektionskrankheiten gilt. Natürlich spielt die Eigenverantwortung des/der Einzelnen immer noch eine gewisse Rolle (zumindest vorläufig können sich die Menschen entscheiden, sich nicht impfen zu lassen), aber diese Rolle ist nicht größer als bei anderen Maßnahmen. Wenn die Impfung eine Verlagerung der Verantwortung auf den/die Einzelne/n bedeutet, dann gilt das Gleiche für MNS-Vorschriften, Ausgangsbeschränkungen, Verbote öffentlicher Veranstaltungen usw. Auch in diesen Fällen ist es Sache des/der Einzelnen, die Vorschriften einzuhalten.
Eine tatsächliche Individualisierung würde z.B. kostenpflichtige Impfstoffe und keinen sozialen Druck zum Impfen bedeuten. Doch genau gegen diesen Druck treten die Demonstrant*Innen in Italien und Deutschland und ihre linke_n Fürsprecher*Innen auf. Paradoxerweise drängen sie selbst auf eine Individualisierung.
In das Denken der Befürworter der vier Thesen hat sich auch eine andere, „methodologische“ Art von Individualismus eingeschlichen. Er manifestiert sich in der Art und Weise, wie sie die Entscheidungen des/der Einzelnen betrachten. Wenn wir akzeptieren, dass die Impfung gegen Covid aus medizinischer und epidemiologischer Sicht sinnvoll ist, dann sollte die Frage, warum manche Menschen die Impfung ablehnen, für uns nicht irrelevant sein. Die linken Befürworter*Innen der Proteste gegen die Maßnahmen übergehen diese Frage jedoch in der Regel schweigend. Für sie ist das Individuum eine Blackbox, wie ein/e MarktteilnehmerIn in der neoklassischen Ökonomie: Er oder sie hat bestimmte Präferenzen (sich nicht impfen zu lassen ist besser als sich impfen zu lassen), die sich in praktischen Handlungen zeigen (d.h. sich nicht impfen zu lassen), aber es gibt nichts, was wir über den Ursprung dieser Präferenzen sagen können.
Daher wird es als beschlossene Sache angesehen, dass jemand „beschlossen“ hat, sich nicht impfen zu lassen. Die Gründe werden nicht untersucht, geschweige denn hinterfragt. So heißt es in dem von Angry Workers veröffentlichten Bericht über die Hamburger Proteste lediglich, dass eine ehemalige Krankenschwester, die jetzt in der medizinischen Ausbildung tätig ist, „beschlossen hat, sich nicht impfen zu lassen“, und fährt mit einer Aufzählung ihrer „Probleme“ mit regelmäßigen Tests fort. Aber die Handlungen von Einzelpersonen und die Entscheidungen, die sie zu etwas bewegen, existieren nicht in einem Vakuum. Wir sollten uns doch dafür interessieren, warum jemand mit einem Hintergrund und Erfahrung im Gesundheitswesen beschließt, während einer weltweiten Pandemie, die mehr als 5,5 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, einen Impfstoff zu verweigern, obwohl alle relevanten Daten für ihn sprechen. Andernfalls machen wir die Pandemie zu einer individuellen Angelegenheit, zu der jede/r seine eigene, private Beziehung haben kann.10
Vielleicht kneifen die linken Befürworter*Innen der Protesten vor einigen der Gründe und Überzeugungen, die sie aufdecken würden: religiöse und esoterische Vorurteile, Verschwörungstheorien, ein falsches Verständnis grundlegender Fakten über Impfstoffe. Aber wenn wir uns nicht scheuen, die Rückständigkeit und die reaktionären Ansichten verschiedener Teile der Arbeiter*Innenklasse in anderen Fällen zu kritisieren, z. B. in Fragen von Geschlecht, Rasse oder Migration, warum sollten wir dann jetzt nachgeben? Natürlich müsste man wie in diesen anderen Fällen die tieferen Ursprünge der Vorurteile oder Ängste in den Widersprüchen des Kapitalismus suchen – zum Beispiel im ungleichen Zugang zur Bildung, den diese vermeintliche „Wissensgesellschaft“ bietet, oder in der brutalen Trennung von geistiger und manueller Arbeit. Aber gerade deshalb ist es nicht realistisch zu erwarten, dass die spontanen Schlussfolgerungen und Entscheidungen der einzelnen Proletarier*Innen immer rational und im Einklang mit ihren eigenen objektiven Interessen sind.11 Auch kann nicht jede Protestbewegung – wie massiv sie auch sein mag, wie mutig sie sich gegenüber dem Staat verhält und wie energisch sie ihre Ziele verfolgt – automatisch als authentischer Ausdruck dieser Interessen angesehen werden.
„Das Argument, die Impfung sei ein Akt der Solidarität mit dem Gesundheitspersonal und den Patient*Innen, weil sie die Krankenhäuser vor Überfüllung schützt, ist trügerisch. Denn es stützt sich auf die heutigen Kapazitäten, die das Ergebnis von mehr als einem Jahrzehnt der Kürzungen nach den letzten Krisen sind. Wer dieses Argument akzeptiert, verschließt die Augen vor der Sparpolitik im Gesundheitssektor.“
Die zweite These zielt darauf ab, das gängige Argument zu widerlegen, dass Impfungen die Gesundheitssysteme vor einer Überlastung mit Patient*Innen schützen. Dies ist in zweierlei Hinsicht wichtig. Erstens können überfüllte Krankenhäuser weder andere Patient*Innen angemessen versorgen, noch können sie ab einer bestimmten Schwelle alle pflegebedürftige_n Covid-Patient*Innen versorgen. Zweitens stellt die Überbelegung für Krankenhäusern eine extreme zusätzliche Belastung für das medizinische Personal, insbesondere für das Pflegepersonal, dar. Die zweite These besagt jedoch, dass die Akzeptanz dieses Arguments bedeutet, das derzeitige Ausmaß der Gesundheitskapazitäten als „normal“ zu akzeptieren und damit vor mindestens einem Jahrzehnt der Sparpolitik zu kapitulieren, die praktisch alle europäischen Länder getroffen hat.12 Einfach ausgedrückt lautet das Argument: Wären die Gesundheitssysteme nicht den Kürzungen zum Opfer gefallen, gäbe es keine Gefahr der Überbelegung und keine Notwendigkeit für Massenimpfungen.
Es ist uns nicht klar, warum ein Argument über eine hypothetische Situation („wenn es keine Sparmaßnahmen gegeben hätte“) eine relevante Antwort auf ein Argument über das Hier und Jetzt sein sollte. Angesichts der derzeitigen Kapazitätsengpässe ist die Verringerung der Zahl der schweren Erkrankungen durch die Verabreichung des Booster ein wirksames Mittel zur Verringerung des Drucks auf sie – und das gilt unabhängig davon, was wir von Sparmaßnahmen halten.13
Dies würde auch dann gelten, wenn Staat und Kapital morgen auf wundersame Weise verschwinden würden: Es würde einige Zeit dauern, um Kapazitäten aufzubauen, sowohl materiell als auch personell. So sind beispielsweise Tausende von qualifizierten Krankenschwestern aus dem ehemaligen Ostblock auf der Suche nach besserer Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen in den Westen gegangen. Viele von ihnen arbeiten als häusliche Pflegekräfte und decken so den Pflegenotstand in diesen Ländern ab, während der Gesundheitssektor in ihren Herkunftsländern unter einem Mangel an Arbeitskräften leidet. Solche überregionalen Ungleichgewichte auszugleichen, ohne dass es auf der anderen Seite zu größeren Engpässen kommt, und das während einer globalen Pandemie – all das wäre selbst für eine Gesellschaft, in der die menschlichen Bedürfnisse an erster Stelle stehen, keine triviale Aufgabe.
Im Folgenden skizzieren wir eine andere, allgemeinere Antwort auf die zweite These. Es gibt einfache Gründe, warum die personellen und materiellen Kapazitäten des Gesundheitswesens in keiner Gesellschaft unbegrenzt sein können. Gleichzeitig gibt es gute Gründe, warum selbst eine kommunistische Gesellschaft das Ausmaß dieser Kapazitäten begrenzen und sie vor Überlastung schützen möchte.
Die Arbeit des Gesundheitspersonals ist Teil der Aktivitäten, die zur Reproduktion des Lebens beitragen.14 Ihre Arbeit allein reicht jedoch nicht aus, um die Gesellschaft zu reproduzieren. Selbst eine Gesellschaft, deren einziges Ziel darin bestünde, ihre eigene Reproduktion zu sichern, wäre daher nicht in der Lage, die gesamte gesellschaftliche Arbeit auf die Gesundheitsversorgung zu verwenden. Das Maximum an gesellschaftlicher Arbeit, das in Form von Arbeit in der Gesundheitsversorgung aufgewendet werden kann (in jeder Gesellschaft, die sich zumindest reproduzieren will), hat bestimmte Grenzen, die durch andere Erfordernisse der Reproduktion bestimmt werden.
Eine Pandemie stellt ein Problem dar, weil sie diese Grenzen zu überschreiten droht. Wenn es präventive Möglichkeiten gibt, dies ganz, oder zumindest das Schlimmste zu vermeiden, ist es sinnvoll, diese zu nutzen. Die Massenimpfung gegen COVID-19 ist ein solches Mittel, weil sie die Zahl der Infizierten und somit die Zahl der schwer Erkrankten zumindest teilweise reduziert. Unter dem Gesichtspunkt des sozialen Arbeitsaufwands bedeutet die Massenimpfung, dass jetzt ein gewisser Aufwand für Präventivmaßnahmen betrieben werden muss (d. h. Einrichtung und Betrieb von Impfstellen, Reisekosten für die Impfung, Vertretung bei Abwesenheit aufgrund von Nebenwirkungen usw. – immerhin kein unerheblicher Aufwand), um den Verlust von Menschenleben, dauerhafte gesundheitliche Schäden und einen viel größeren Arbeitsaufwand zur Bewältigung der Folgen in der Zukunft zu vermeiden.
Auch eine kommunistische Gesellschaft müsste nach bestimmten Kriterien entscheiden, wie die gesellschaftliche Arbeit verteilt wird. Das zentrale Ziel des Kommunismus ist die Reduzierung der notwendigen Arbeit auf ein Minimum in allen Bereichen. Wenn wir in einer solchen Gesellschaft eine „sparsamere“ (weniger gesellschaftliche Arbeit kostende) und effizientere (im Falle von Impfstoffen: mehr Leben mit weniger Nebenwirkungen rettende) Option wählen könnten, wäre es rational, diese anderen Optionen vorzuziehen, die weniger sparsam oder weniger effizient sind. Marx sah den verschwenderischen, irrationalen Einsatz von Arbeitskraft als eines der Kennzeichen des Kapitalismus.15 Eine kommunistische Gesellschaft würde die Arbeitskraft ersparen. Sie würde sie nicht nur vor übermäßiger Abnutzung schützen, sondern auch versuchen, die absolute Menge an gesellschaftlicher Arbeit, die aufgewendet werden muss, zu reduzieren, und würde jede verfügbare rationale Maßnahme ergreifen, um ihren unnötigen Einsatz zu vermeiden.
Im Gegensatz dazu wird bei der zweiten These die Arbeitskraft stillschweigend so behandelt, als sei sie entbehrlich und in unbegrenzter Menge vorhanden. Die Impfgegner*Innen gehen davon aus, dass die Arbeit, die mit der Pflege um sie selbst verbunden ist – eine Arbeit, die faktisch überschüssige Arbeitskraft ist, weil sie größtenteils nicht benötigt würde, wenn sie selbst geimpft wären -, dem medizinischen Personal einfach aufgezwungen werden kann. Eine Mentalität, die eines Pharaos würdig ist.
Während der Ausbreitung der Delta-Variante waren die Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitssystem in der Slowakei deutlicher zu spüren als in Ländern mit höheren Impfraten. Hier waren wir wirklich an der Kapazitätsgrenze angelangt, über die hinaus die Gesundheitsversorgung großteils einfach stillgelegt worden wäre. Wir haben gesehen, wie niedrige Impfraten zu einer extremen Ausbeutung der Arbeitskraft in diesem Sektor geführt haben. Vielleicht hat diese Erfahrung zu unserer Ablehnung der zweiten These beigetragen. Wie die erste These, dass Impfen eine „Individualisierung der Verantwortung“ bedeutet, halten wir dieses Argument für eine leere rhetorische Übung, um das Impfen oder seine Förderung zu einem „neoliberalen“ Schreckgespenst zu machen. In der gegenwärtigen Situation sehen wir keinen Sinn darin, den gestern verlorenen Kämpfen gegen die Austerität nachzutrauern. Die Impfung ist ein einfacher Akt der Solidarität mit dem, was vom Gesundheitssystem übrig geblieben ist, und stellt in keiner Weise ein Hindernis für die Kämpfe für den Ausbau dieses Systems oder für bessere Bedingungen für die Menschen dar, die in diesem System arbeiten. Im Gegenteil, sie selbst rufen die Öffentlichkeit oft dazu auf, sich impfen zu lassen.
„Die Impfpflicht, zum Beispiel in Form des COVID-Passes, dient nicht wirklich dem Gesundheitsschutz. In erster Linie geht es darum, die Bevölkerungskontrolle zu verstärken und die Profite der Pharmaindustrie zu sichern. Die Maßnahmen zur Erhöhung der Impfraten sind übermäßig repressiv und sollen den Weg für weitere Disziplinierungen, Sparmaßnahmen und Einschränkungen beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen ebnen.“
Während die ersten beiden Thesen die medizinische Wirksamkeit und die gesellschaftliche Bedeutung von Impfungen in Frage stellten, soll die dritte These die „wahren“ Absichten dahinter offenlegen. Angeblich zielt die Einführung von Impfpässen darauf ab, die Überwachung der Bevölkerung zu verstärken, um sie auf die Verhängung weiterer Einschränkungen vorzubereiten.16 Manchmal wird dies mit der Behauptung kombiniert, dass die Staaten die Impfung vorantreiben, um den Pharmaunternehmen Gewinne zu sichern.
Die dritte These überzeugt am meisten, wenn wir die beiden vorangegangenen Thesen zumindest zum Teil akzeptieren. Wenn Impfstoffe tatsächlich unwirksam wären und die Krankenhäuser nicht vor Überfüllung schützen würden, wäre es naheliegend, andere, nichtmedizinische Ziele hinter der Impfung zu sehen. Da wir uns bereits mit der Wirksamkeit von Impfstoffen und der Bedeutung der Solidarität mit dem Gesundheitswesen befasst haben, werden wir auf diese Aspekte nicht mehr eingehen. Wir stellen lediglich fest, dass sie die dritte These abschwächen.
Andererseits ist ein Teil der dritten These auf triviale Weise wahr. Nicht nur die Impfung, sondern alle (wirksamen) epidemiologischen Maßnahmen führen zu einer Verstärkung der sozialen Kontrolle in verschiedenen Formen. Bevor die Impfstoffe zur Verfügung standen, gehörten dazu die Kontrolle durch Tests, die Durchsetzung der Maskenpflicht, das Verbot von Versammlungen und verschiedenen Veranstaltungen, die Einschränkung des Betriebs von Geschäften und verschiedenen Einrichtungen und in einigen Ländern die streng überwachte Ausgangssperren.
Natürlich war die Art und Weise, wie diese Regeln umgesetzt und durchgesetzt wurden – und oft auch ihr Inhalt – nicht politisch neutral. Dies zeigte sich beispielsweise in der ungerechten Anwendung von Maßnahmen am Arbeitsplatz (in der Diskrepanz, das die Arbeiter*Innen für Nichteinhaltung der Maßnahmen persönlich betraft wurden, während dem Management viel mehr durchging; aber auch in der breiten Kluft zwischen den Regeln die für die Freizeit und denen die für die Arbeitsplätze galten) und in den Gemeinden (der Einsatz von Streitkräften und die flächendeckende Quarantäne in Roma-Siedlungen in der Slowakei) oder in den verschiedenen Ausnahmen, die aus wirtschaftlicher oder ideologischer Sicht sinnvoll, aber für die öffentliche Gesundheit wohl schädlich waren (in der Slowakei: die Frage der offenen Einkaufszentren und Kirchen). In einigen Ländern waren diese Maßnahmen auch durch die Inkompetenz oder Gleichgültigkeit der Regierungen und Behörden oder deren Unwilligkeit, einfach der Wissenschaft zu folgen, gekennzeichnet. In diesen Fällen lag das Problem jedoch eher in einer unzureichenden oder uneinheitlichen Kontrolle als in der Kontrolle an sich. Keine Pandemie einer Infektionskrankheit kann ohne ein gewisses Maß an sozialem Zwang eingedämmt werden.17
Daher stehen die Anhänger*Innen der dritten These vor folgender Wahl. Sie können darauf beharren, dass die Maßnahmen von Anfang an übertrieben, zu strafend und hauptsächlich auf Disziplinierung ausgerichtet waren. Dann stellt sich die Frage, wie sie die Pandemie in den Griff bekommen wollen, wenn alle Maßnahmen völlig freiwillig sind.18 Oder sie argumentieren, dass eine Verschärfung des Kontrollregimes gerade das Ziel von Impfnachweisen und ähnlichen Maßnahmen ist. Während also Mund-Nasen-Schutzmasken, regelmäßige Tests, soziale Distanzierung und möglicherweise auch Lockdowns ein akzeptables Maß an Zwang darstellten, haben die neueren Maßnahmen die Grenze überschritten.19
Der Super GreenPass (Italien) oder die 2G-Regelung (Deutschland), die in der slowakischen Terminologie der „OP“-Regelung entspricht, schränkt den Zugang zu Restaurants, Geschäften, kulturellen Veranstaltungen und verschiedenen Freizeitaktivitäten ein. In Italien gelten diese Regeln seit dem 10. Januar auch für öffentliche Verkehrsmittel. Es handelt sich zweifellos um eine Zwangsmaßnahme. Wer die Bedingungen nicht erfüllt, hat keinen Zugang zu den Annehmlichkeiten x, y und z. Es wird erwartet, dass er oder sie diesen Zugang wünscht und daher das Notwendige tut – und sich impfen lässt.
Wir sehen hier von der Tatsache ab, dass es nicht allzu schwierig ist, diesen Schritt zu tun, da in den betreffenden Ländern die Impfstoffe reichlich und kostenlos zur Verfügung stehen. Wir lassen auch die Tatsache beiseite, dass die Impfung eine viel sicherere Option ist als COVID-19 durchzumachen. Die dritte These besagt, dass der Zweck all dieses Zwangs darin besteht, den Weg für ein weiteres Drehen an den Schrauben zu ebnen. Es ist uns jedoch nicht klar, wie das funktionieren soll. Wenn jemand gezwungen wird, sich impfen zu lassen – z. B. um zu verreisen oder in Restaurants zu gehen – bedeutet dies, dass es dem Staat gelungen ist, diese Person zu „brechen“, sie zu einem „Schaf“ zu machen? Wird diese Erfahrung eine Art kollektives psychologisches Trauma verursachen und die Bevölkerung für künftige Widrigkeiten empfänglicher machen? Geht es hier darum, die Menschen an routinemäßige Eingriffe in ihre körperliche Integrität oder ihr Recht auf Datenschutz zu gewöhnen? Diese und ähnliche Überlegungen kennen wir von den „Leugner*Innen“, die auch die bisherigen Maßnahmen, wie z.B. die Zwangstests, auf ähnlicher Grundlage kritisiert haben. Uns kommt das alles ziemlich absurd vor. Vor der Pandemie wäre niemand auf die Idee gekommen, z.B. die Impfpflicht des Gesundheitspersonals in vielen europäischen Ländern gegen Hepatitis B mit den staatlichen Plänen zur „Vorbereitung“ der Sparmaßnahmen in Verbindung zu bringen.
Linke Kritiker*Innen, die behaupten, das Ziel vom Impfnachweis sei „Disziplinierung“, lassen weitgehend unklar, wozu das gut sein soll. Unserer Ansicht nach reicht es nicht aus, vage auf „Verletzungen der Bürgerrechte“ zu verweisen oder Disziplin als abstraktes Ziel an sich vorzuschreiben. Im Falle des chinesischen Hukou-Systems, das die Binnenmigration und den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen außerhalb des Wohnorts regelt, können wir beispielsweise beschreiben, welche Funktionen es hat, welches Problem der Staat zu lösen versucht und wie es in das chinesische Modell der kapitalistischen Akkumulation passt. Damit die dritte These Sinn macht, sollten ihre Befürworter in ähnlicher Weise erklären oder zumindest skizzieren, wie die verschiedenen Formen des Impfzwangs dazu beitragen, reale Probleme der sozialen Kontrolle zu lösen oder die Voraussetzungen für weitere Unterdrückung zu schaffen – und warum die gleichen Ziele nicht auf diskretere Weise erreicht werden können, beispielsweise durch biometrische Pässe oder Personalausweise, deren Vorbereitungen in der EU lange vor der Pandemie begannen.
Es gibt eine rationalere Variante der dritten These, die besagt, dass die Verschärfung der Maßnahmen lediglich ein Ablenkungsmanöver ist. Ziel ist es, einen Vorwand für weitere Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor zu schaffen. Es heißt, die Staaten kalkulierten bewusst, dass nicht alle Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen der Impfpflicht nachgehen würden. So können sie leichter entlassen werden und die Kosten für den Betrieb des Sektors sinken. Ein weiteres, allgemeineres Ziel der Maßnahmen soll es sein, die Widerstandsbewegung zu radikalisieren. Wenn die Impfkampagne trotz des Widerstands erfolgreich ist, wird das Verdienst der starken Führungspersönlichkeiten sein, die die Impfung zur Pflicht gemacht und sich mit den Gegner*Innen auseinandergesetzt haben. Wenn die Kampagne hingegen scheitert, wird es leicht sein, mit dem Finger auf jemand anderen zu zeigen und jede Verantwortung für die Folgen für die öffentliche Gesundheit von sich zu weisen. Die Strategie „Teile und herrsche“ wird in beiden Fällen aufgehen.
In den letzten zehn Jahren (und auch schon davor) brauchten die europäischen Staaten jedoch weder Pandemien noch Impfnachweis oder ähnliches, um ganz reibungslos und effektiv brutale Sparmaßnahmen durchzusetzen, die die öffentlichen Dienste zerstörten. Angesichts des enormen Anstiegs der Staatsverschuldung, der durch die Maßnahmen zur „Rettung der Wirtschaft“ in den ersten Monaten der Pandemie ausgelöst wurde, ist eine Fortsetzung dieser Politik das Gebot der Stunde, unabhängig davon, wie die Massenimpfung ausfällt. Große Teile der Beschäftigten des öffentlichen Sektors, sowohl geimpfte als auch ungeimpfte, werden unter diesen Druck geraten. Die Durchführbarkeit und Notwendigkeit dieser komplexen „Strategie“ ist daher fraglich.
Gehen wir jedoch davon aus, dass die Staaten tatsächlich so denken, wie beschrieben. Auch dann gibt es gute Gründe, von den Impfgegner*Innen und ihren Protesten einen Abstand zu nehmen. Ein solches Vorhaben des Staates hätte keinen Einfluss auf die Wirksamkeit von Impfungen zum Schutz der Gesundheit und des Gesundheitssystems, die wir bereits angesprochen haben. Unabhängig von allen Schachpartien, die Politiker*Innen mit dem Impfen spielen, ist es immer noch besser, sich impfen zu lassen als nicht. Und aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ist es besser, wenn möglichst viele Menschen geimpft sind. Die Unterstützung von Protesten, die die Impfung verzögern oder blockieren wollen, ist damit nicht vereinbar. Die Wahl dieses Weges erinnert ein wenig an die Taktik der amerikanischen Konservativen: „sterben, um es den Libs zu zeigen“.
Die Behauptung, dass der Hauptzweck von Impfungen darin besteht, die Taschen der großen Pharmaunternehmen zu füllen, wird häufig von „Leugner*Innen“ vorgebracht. Einige Befürworter*Innen von Impfungen reagieren darauf mit Zahlen, die zeigen, dass der Umsatz mit Impfstoffen nur einen kleinen Teil der Gesamteinnahmen des Sektors ausmacht. Diese Daten sind jedoch nicht sehr aussagekräftig. Nur wenigen Unternehmen des Sektors ist es gelungen, einen wirksamen Impfstoff gegen Coronaviren zu entwickeln, der von den zuständigen Behörden zugelassen wurde. Nur die wirtschaftliche Leistung dieser Unternehmen ist relevant, nicht die des gesamten Sektors.
Außerdem geht es um den Gewinn, nicht um die Einnahmen. In einem älteren Artikel wird die Gewinnspanne von Comirnaty (Pfizer-BioNTech) auf zwanzig Prozent geschätzt. Im Jahr 2021 kauften die EU-Länder diesen Impfstoff für 19,50 € pro Dosis. Der Gewinn könnte also etwa 3,90 € pro Dosis betragen. Im Jahr 2022 wird die EU voraussichtlich 650 Millionen weitere Dosen kaufen. Bei diesem Preis und dieser Gewinnspanne würde dies den Herstellern einen Bruttogewinn von über 2,5 Mrd. EUR einbringen, und das bei nur einem Bruchteil ihres Umsatzes.
Diese Entdeckung ist jedoch ziemlich banal. Ja, Impfstoffe sind eine Quelle des Profits für die Unternehmen, die sie herstellen. Wie alle anderen pharmazeutischen und medizintechnischen Produkte sowie die meisten Dinge, die wir zum Leben brauchen, werden auch die COVID-19-Impfstoffe mit dem Ziel produziert, sie gewinnbringend zu verkaufen. Andernfalls wären sie für private Pharmaunternehmen nicht von großem Interesse.20 Das ist auch der Grund, warum die Staaten die Entwicklung und Herstellung von Covid-Impfstoffen mitfinanziert oder sogar selbst in die Hand genommen haben.21
So haben Unternehmen wie Pfizer öffentliche Mittel für die Produktion von Gütern verwendet und die Gewinne behalten.22 Auch dies ist nur für diejenigen ein Schock, die mit dem kapitalistischen Agrobusiness, dem Energiesektor, der Automobilherstellung oder dem Finanzsektor nicht vertraut sind. Überall finden wir Beispiele für öffentliche Subventionen für Tätigkeiten, die eine Quelle privaten Profits sind. Und wie im Falle der Pharmaindustrie ist die Geschichte dieser Sektoren voll von Skandalen, bei denen es um die Herstellung von minderwertigen oder gefährlichen Produkten, die Verschleierung der Wahrheit darüber, die Zerstörung der Natur, Lobbyismus und Korruption geht. Allerdings hören wir von den Impfgegner*Innen nicht zu oft, dass wir aufhören sollen Lebensmittel oder fossile Brennstoffe zu kaufen.
Ob es uns gefällt oder nicht, wir leben derzeit in einer Gesellschaft, deren Ziel nicht einfach die Produktion von nützlichen Dingen ist, sondern die Produktion von Mehrwert. Solange dies der Fall ist, sind wir weitgehend auf Gebrauchswerte angewiesen, die das Produkt des Kapitals sind. Natürlich ist diese Art der Befriedigung unserer Bedürfnisse mit Widersprüchen behaftet. Sie zeigen sich zum Beispiel darin, dass Impfstoffe für arme Länder aufgrund von Patenten unerreichbar bleiben. Die Rechte zur Herstellung wirksamer Impfstoffe aus den Klauen des Privateigentums zu entreißen, wäre ein Ziel, das der Arbeiter*Innenklasse würdig wäre – einer universellen Klasse, die in der Lage ist, die Gesellschaft als Ganzes zu befreien.
„Der Widerstand der Bevölkerung gegen die staatlichen Schikanen wächst und drückt sich in Massenprotesten aus. Obwohl wir im Gegensatz zu einigen der Demonstranten nicht die Impfstoffe an sich ablehnen, sind wir solidarisch mit ihrem Widerstand gegen die staatliche Politik. Wir können uns dieser Bewegung nicht verschließen, denn sie umfasst viele Arbeiter*Innen, ist selbstorganisiert und richtet sich gegen die drakonischen Maßnahmen des Staates.“
Die Befürworter*Innen der vierten These betrachten die Proteste gegen die Verschärfung der Maßnahmen (und speziell gegen die Impfpflicht) als eine mehr oder weniger spontane und selbstorganisierte Bewegung, die sich unter zahlreicher Beteiligung der Arbeiter*Innen gegen die repressive Macht des Staates wendet. Obwohl sie die Rhetorik der „Leugner*Innen“ ablehnen und einigen Elementen der Proteste oder ihrer Ideologie kritisch gegenüberstehen, sehen sie hier eine Chance. Sie schlagen vor, den Widerstand gegen die Pandemiemaßnahmen auf andere Bereiche der staatlichen Politik oder des kapitalistischen Alltags zu verallgemeinern und ihn gleichzeitig von seinen problematischen Aspekten wegzulenken, die ihn in die Nähe der extremen Rechten rücken.
In den verschiedenen Ländern nehmen diese Proteste unterschiedliche Formen an und verändern sich auch im Laufe der Zeit. An manchen Orten sind Gewerkschaften (größere oder kleinere, konservative oder radikale) beteiligt, während in anderen Ländern Nationalisten, Faschisten und jene Teile der Öffentlichkeit, die bereit sind, ihnen zuzuhören, die Hauptrolle spielen. In einigen Ländern überwiegen „esoterische“ oder anderweitig randständige Tendenzen, in anderen ist die offizielle parlamentarische Opposition beteiligt oder initiiert sogar die Proteste. Auch die soziale Zusammensetzung der Demonstrant*Innen ist unterschiedlich. Angesichts dieser Vielfalt ist es nicht einfach, eine allgemeingültige Charakterisierung der gesamten „Bewegung“ zu formulieren. Auch wenn der Widerstand gegen die Maßnahmen im Mittelpunkt steht, kristallisieren sich in ihr auch (mehr oder weniger individuelle) Reaktionen auf andere Aspekte der allgemeinen Misere heraus, in der die Pandemie nur ein einziges Moment darstellt.23
Krisensituationen, in denen Konflikte und Widersprüche eskalieren, sind immer auch eine potenzielle Chance für die Arbeiter*Innenklasse. Die Frage ist, ob sie sich in solchen Situationen als eigenständige politische Kraft behaupten kann, die ihre spezifischen Interessen und Bedürfnisse einbringt, oder ob sie in der „klassenlosen“ Identität der anderen aufgeht. Im schlimmsten Fall unterwirft sie sich den Kräften der extremen Rechten, die sich letzten Endes immer gegen die Interessen der Arbeiter*Innenklasse richten. Die Herbstproteste in Triest waren vielleicht die proletarischsten, sowohl was die Forderungen als auch die Mittel des Kampfes angeht. Die jüngsten Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich auch hier die Strömung der „Leugner*Innen“ oder Impfgegner*Innen als solche letztlich durchgesetzt hat. Wir wollen damit nicht sagen, dass es so kommen musste. Aber wenn es selbst dort passiert ist, wo die „Bewegung“ am wenigsten von problematischen Elementen kontaminiert war, wie groß sind dann die Chancen, dass z.B. aus den Protesten in Deutschland etwas grundlegend anderes hervorgeht?
Obwohl diese Aktionen in den Medien große Beachtung finden, nimmt nur ein kleiner Teil der Öffentlichkeit (und wir sprechen hier bewusst nicht von „Arbeiter*Innen“) daran teil. Die Befürworter*Innen der vier Thesen verzichten auf eine breitere, gesamtgesellschaftliche Perspektive, um einen bestimmten Teil der Arbeiter*Innenklasse zu erreichen, der von den Protesten angezogen wird. Dabei üben sie keine ausreichende Kritik an der Ideologie dieser „Bewegung“. Im Gegenteil, sie neigen dazu, einige ihrer Elemente zu übernehmen, so dass sich ihre Argumentation bisweilen der Rhetorik der „Leugner*Innen“ annähert. Allein die Bezeichnung der Maßnahmen als „drakonisch“, obwohl es nur minimale Anstrengungen erfordert, sich impfen zu lassen und jede Art von Sanktion zu vermeiden, ist als Rückzug aus der kritischen Analyse zu werten.24
Wir halten einen solchen Opportunismus seitens bestimmter Teile der radikalen Linken für riskant. Vielleicht wird sie zu diesen Protesten durch ihre Wut, ihrer anti-systemischen Haltung und Bereitschaft die Polizei zu konfrontieren, hingezogen. Wir können nicht alle Formen dieses Phänomens in den verschiedenen Ländern beurteilen. Generell halten wir es jedoch für wichtig, zwischen Misstrauen, das in der praktischen Erfahrung der Arbeiter*Innen verwurzelt ist (z. B. Zweifel an der Wirksamkeit und Fairness von Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz), und Misstrauen, das von außen in die Arbeiter*Innenklasse hineingetragen wird, zu unterscheiden. Ein Beispiel dafür ist die Haltung einer Basisgewerkschaftsorganisation im slowakischen Industriebetrieb, die ansonsten im Bereich Sicherheit und Gesundheitsschutz sehr aktiv ist. In der Frage der Impfung sind ihre Aktivist*Innen jedoch zu dem Schluss gekommen, dass es keine gute Idee ist, zu diesem „kontroversen“ Thema zu agitieren, und dass es besser wäre, es als eine rein individuelle, „medizinische Angelegenheit“ zu betrachten. Das Vermeiden von Themen, die Kontroversen auslösen können, mag taktisch vorteilhaft sein, aber nur auf kurze Sicht. In ähnlicher Weise distanzieren sich die Gewerkschaften in der Slowakei von anderen „kontroversen“ Themen, wie etwa Migration oder „sexuelle Minderheiten“, die von verschiedenen politischen Kräften und den Medien zu Feindbildern gemacht werden. Das Versäumnis, diese Themen aus dem Blickwinkel der Arbeiter*Innenklasse zu betrachten, führt nur dazu, dass die Dominanz von Gruppen oder Bewegungen in diesen Bereichen gestärkt wird, die zwar behaupten, die „Stimme des Volkes“ zu sein, aber überhaupt nicht die Interessen der Arbeiter*Innen vertreten.
Was die Proteste in der Slowakei anbelangt, so ist ihre Wut von Natur aus irrational und reaktionär. Sie ist irrational, weil der gemeinsame Wunsch der Demonstrant*Innen eine „Rückkehr zur Normalität“ ist, zu den früheren Zeiten, als ob man sich die Pandemie einfach weg wünschen könnte. Sie ist reaktionär, weil sie sich auch gegen die Arbeiter*Innenklasse selbst richtet. Einige der Galionsfiguren dieser Proteste haben auch Angriffe auf Mitarbeiter*Innen des Gesundheitswesens in Impfzentren oder Krankenhäusern organisiert (dies ist jedoch kein ausschließlich slowakisches Phänomen), sie haben bekannte Ärzt*Innen oder Epidemiolog*Innen an ihren Wohnorten belästigt oder sich auf vorsätzliche Konfrontationen mit Supermarktmitarbeiter*Innen eingelassen, die sie lediglich gebeten hatten, eine Maske zu tragen. Wir sehen in einer solchen Wut kein Potenzial.
Die Thesen, mit denen wir uns hier beschäftigt haben, können manchmal verwirrend sein. Ihre Befürworter*Innen behaupten zum Beispiel, dass sie die Impfstoffe als solche nicht in Frage stellen wollen. An einigen Stellen scheinen ihre Argumente jedoch genau das zu tun. Gleichzeitig schlagen sie auf praktischer Ebene einen großzügigen Umgang mit Bewegungen vor, deren Ziel es ist, Massenimpfungen zu verzögern oder zu blockieren, und die größtenteils von ausgesprochenen „Leugner*Innen“ dominiert werden. Natürlich kann eine prinzipielle Ablehnung von Impfungen unter den richtigen Umständen eine legitime Position sein. Alle relevanten Beweise sprechen jedoch eindeutig für das Impfen, und als Materialist*Innen fühlen wir uns verpflichtet, unsere politischen Positionen mit dem abzustimmen, was die beste verfügbare Wissenschaft sagt.
Das Gewicht dieser Beweise wird auch von den linken Apologet*Innen der Proteste anerkannt. Die Debatten enden daher meist damit, dass sie behaupten, sie seien für die Impfung, aber „nicht in ihrer jetzigen Form“. Wir geben zu, dass das antiautoritäre Ethos dieser Position ansprechend ist. Auf dem Papier sieht sie jedoch besser aus als in der Wirklichkeit. Angesichts des Mutationspotenzials ist die Pandemie nur global zu bewältigen. Zumindest die Grunddosis, idealerweise aber auch die Auffrischungsimpfungen, sollten so viele Menschen wie möglich erreichen.25 Selbst in einigen Ländern an der Peripherie Europas (einschließlich der Slowakei), die nicht unter Impfstoffmangel leiden, ist bis zur Hälfte der Bevölkerung ungeimpft, mancherorts sogar noch mehr. Die Massenproteste gegen die Impfung im Westen, wo der Anteil der Ungeimpften deutlich geringer ist, geben dem Widerstand gegen die Impfung in diesen Ländern einen starken Impuls. Die virtuelle Welt der slowakischen Impfgegner*Innen ist voll von Videos aus Wien, Hamburg und italienischen Städten, wo die Menschen angeblich endlich „aufstehen“. Natürlich tragen auch die Proteste nicht dazu bei, den Zugang zu Impfstoffen in den Ländern zu erleichtern, in denen es nicht genug davon gibt.
In den Diskussionen sind wir auch auf die Ansicht gestoßen, dass die spezifischen historischen Erfahrungen der Länder des globalen Südens berücksichtigt werden müssen. Angeblich stößt dort jeder Impfdruck auf Widerstand, so dass man sich auch anderswo, auch in den Industrieländern, diesem Druck widersetzen muss. Wir sind jedoch eher skeptisch, was die Prämisse betrifft, auf der diese Ansicht beruht. Betrachtet man die Daten, so scheint es sich um eine Art umgekehrten Orientalismus zu handeln. Kambodscha hat bereits einem größeren Teil seiner Bevölkerung eine volle Dosis Impfstoff verabreicht als die meisten EU-Länder. Indien hat bisher etwa den gleichen Anteil seiner Bevölkerung geimpft wie die Slowakei, obwohl das Land etwa 250 Mal größer ist. Bangladesch, Bhutan und Laos schneiden besser ab als Bulgarien, das in etwa mit Myanmar gleichauf liegt. Ähnliche Beispiele finden sich in Südamerika (Ecuador hat bereits eine Impfpflicht eingeführt) und im Nahen Osten. Wir geben zu, dass es in Afrika nur wenige derartige Fälle gibt.
Damit soll nicht bestritten werden, dass die Erfahrung verschiedener Arten von Unterdrückung, insbesondere kolonialer und rassistischer Unterdrückung, eine Rolle bei der Abneigung gegen Impfungen spielen kann. Eine Umfrage unter Beschäftigten des Gesundheits- und Sozialwesens im Vereinigten Königreich vom April 2021 bestätigt dies teilweise. Den Daten zufolge scheint der Hauptgrund, sich nicht impfen zu lassen, die Sorge über Nebenwirkungen oder die mangelnde Wirksamkeit des Impfstoffs zu sein. Eine andere Gruppe fühlt sich durch Covid nicht bedroht.26 Solche Gründe sind uns nicht gleichgültig – vor allem dann nicht, wenn es sich um die individuelle Einstellung unserer Kolleg*Innen handelt und nicht um die Agenda einer Bewegung, die darauf abzielt, die Impfung zu untergraben. Die Überwindung solcher Hindernisse erfordert eine Massenkampagne und viel geduldige Erklärungs- und Überzeugungsarbeit. Weder wir noch die Befürworter*Innen der vier Thesen verfügen jedoch über die Mittel für ein derartiges Unterfangen. Vielleicht wäre es angebracht, die Staaten aufzufordern, ihre Anstrengungen in diesem Bereich zu verstärken. Eine solche Forderung lässt sich aber kaum mit der Unterstützung von Protesten vereinbaren, deren vorherrschendes Momentum ja die Impfgegnerschaft ist.
Keine Unterstützung für die Bewegung gegen die Maßnahmen, wie sie sich bisher formiert hat, bedeutet nicht automatisch Unterstützung für alle Aktionen des Staates. Ebenso bedeutet die Weigerung, sich in einer militärischen Auseinandersetzung auf die Seite des eigenen „Vaterlandes“ zu stellen, nicht zwangsläufig die Unterstützung der anderen Seite. Der Flirt mit der extremen Rechten, der Pseudowissenschaft und den wirtschaftlichen Interessen verschiedener Scharlatane ist nicht die einzige Option, die der Arbeiter*Innenklasse bleibt. Sie muss sich auch nicht zurücklehnen und abwarten. Sie kann die Widersprüche des kapitalistischen Managements der Pandemie auf eine Weise begreifen, die sich an ihren alltäglichen Bedürfnissen orientiert und nicht im Widerspruch zum Gesundheitsschutz steht. Im nächsten Abschnitt wollen wir einen allgemeinen Rahmen für einen solchen Ansatz skizzieren und einige praktische Schlussfolgerungen ziehen.
Das Kapital kauft den Arbeiter*Innen das Recht ab, ihre Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit zu nutzen. Sie werden mit einem Lohn belohnt, der es ihnen ermöglicht, sich zu reproduzieren – das heißt, er hält sie am Leben, sichert einen gewissen Lebensstandard und erhält ihre Arbeitsfähigkeit. Aus kapitalistischer Sicht ist der Lohn ein Kostenfaktor: Je niedriger er ist, desto größer ist der Profit. Das Interesse der Arbeiter*Innen hingegen besteht darin, ihre Arbeitskraft so teuer wie möglich zu vermieten. Ähnliche Gegensätze durchdringen alle Fragen der Arbeitsorganisation. Zum Beispiel bringt jeder Einsatz von Arbeitskraft deren Abnutzung mit sich, die regeneriert werden muss. Die kurzfristigen Interessen des Kapitals gebieten es, so viel Zeit wie möglich aus der Arbeitskraft herauszuholen, entweder extensiv (durch Verlängerung des Arbeitstages) oder intensiv (z.B. durch Beschleunigung des Arbeitstempos). Umgekehrt haben die Arbeiter*Innen ein Interesse daran, dass der Verschleiß ihrer Arbeitskraft ein als akzeptabel erachtetes Maß nicht überschreitet. Oder, wenn sie sich bereit erklären, diese Grenze zu überschreiten, liegt es in ihrem Interesse, dass dies durch zusätzliche Bezahlung oder Freizeit ausgeglichen wird. Ab einer bestimmten Schwelle ermöglicht jedoch auch ein solcher Ausgleich nicht mehr die vollständige Regeneration der Arbeitskraft in normaler Qualität. Der Körper oder der Geist des Arbeiters/der Arbeiterin ist vorzeitig erschöpft, er ist beschädigt.
Es gibt noch weitere Gefahren, die auf die Arbeitskraft einwirken, die Abnutzung verstärken oder die Gefahr einer plötzlichen Zerstörung, d.h. des Todes des Arbeiters/der Arbeiterin, in sich bergen: übermäßige körperliche oder psychische Belastung, Nachtarbeit, Lärm, Vibrationen, Hitze, Chemikalien und viele andere.27 Ihre Auswirkungen sind ebenfalls Gegenstand von Konflikten. Maßnahmen, die ergriffen werden können, um die Arbeiter*Innen vor solchen Gefahren zu schützen, stellen zusätzliche Kosten für das Kapital dar. Ihre Einführung wird stets sorgfältig geprüft und mit Alternativen verglichen. Gefährden die Gefahren am Arbeitsplatz die Kontinuität der Produktion? Ist die Fluktuation der Arbeiter*Innen zu hoch? Könnten Entschädigungen für Verletzungen oder Todesfälle den Ruf oder die Leistung des Unternehmens gefährden? Können diese Probleme zumindest teilweise vermieden werden, indem schädliche Arbeiten einer besonderen Kategorie von Arbeiter*Innen, wie Leiharbeiter*Innen oder Migrant*Innen, zugewiesen werden? Die Perspektive der Arbeiter*Innen ist eine grundlegend andere. Für das Kapital ist der einzelne Arbeiter/die einzelne Arbeiterin entbehrlich, zumindest innerhalb bestimmter Grenzen. Die Arbeiter*Innen haben aber keine Ersatzkörper. Es liegt daher in ihrem Interesse, dass mit ihren Körpern möglichst sparsam umgegangen wird und dass alles getan wird, um sie zu schützen. Der Interessenkonflikt wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass Verletzungen in Zeiten starken Wirtschaftswachstums häufiger vorkommen. Die für das Kapital günstigste Phase des Konjunkturzyklus ist eine Katastrophe für die Sicherheit der Körper am Arbeitsplatz.
Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit in diesem Bereich ist von Anfang an ungleich, und zwar in mindestens zweierlei Hinsicht. Erstens wird er durch die spezifische Situation des Proletariats als einer Klasse bestimmt, die ihre Arbeitskraft verkaufen muss, um zu überleben. Es hat nicht immer die Wahl zwischen sichereren und weniger sicheren Arbeitsplätzen. Außerdem kann die Gefährlichkeit von Arbeitsplätzen getauscht werden: Die Gesundheit oder die künftigen Rentenjahre eines Arbeiters/einer Arbeiterin können Stück für Stück gegen eine Gefahrenzulage verkauft werden. Der Preis für die Gesundheit ist nicht immer eine Geldprämie, er kann auch in größerer Autonomie, der Möglichkeit, das Arbeitstempo zu bestimmen, usw. bestehen. Angesichts der anderen Optionen, zwischen denen die Arbeiter*Innen in bestimmten Situationen wählen können, mögen solche Kompromisse verlockend sein. Bei bestimmten Entlohnungssystemen und Arbeitsorganisationen sind sie unvermeidlich. Wenn bei Befolgung sicherer Arbeitsabläufen die Arbeit zu viel verlangsamt wird, kann sich dies in einem geringeren Verdienst niederschlagen und sogar zur Entlassung des Arbeiters/der Arbeiterin führen.
Zweitens: Der Kampf für sicherere Arbeitsbedingungen beginnt immer auf dem Terrain des Wissens. Im Kapitalismus ist die Arbeit derjenigen, die den Produktionsprozess planen, im Allgemeinen von der Arbeit derjenigen getrennt, die die ihnen übertragenen Aufgaben ausführen. Der einzelne Arbeiter/die einzelne Arbeiterin verfügt nicht über genaue Kenntnisse über jeden Aspekt des größeren Prozesses, an dem er/sie beteiligt ist. Dies wird auch nicht von ihm/ihr erwartet. Außerdem sind viele Arbeiter*Innen aufgrund der allgemeinen Stellung des Proletariats in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung vom Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgeschlossen. Daher können Gefahren, die die Gesundheit der Arbeiter*Innen schädigen, im Verborgenen wirken, und das Kapital hat ein Interesse daran, dass dies auch so bleibt. Die Geschichte bietet eine Fülle von Beispielen für das Verschweigen schädlicher Auswirkungen, insbesondere von Chemikalien. Und natürlich ist es oft ein langer Weg von der Entdeckung von Gefahren bis zur Anerkennung ihrer Existenz durch die Geschäftsleiter und zu Schritten zu ihrer Beseitigung oder zumindest zu einem Angebot zur Entschädigung. Die subjektive Wahrnehmung der Arbeiter*Innen von Gefahren, derer sie sich bereits bewusst sind, wird auch davon beeinflusst, inwieweit sie sich mit ihrer Arbeit und ihrer sozialen Stellung identifizieren. In einigen Berufen gibt es eine Kultur der Akzeptanz von Gefahren oder sogar einen Stolz darauf, wie schwierig und riskant die Arbeit ist. Eine solche Kultur kann ein Mittel sein, um unzufriedene Arbeiter*Innen zu besänftigen. Daher hat das Kapital ein Interesse daran, sie zu fördern.28
Wie bei der Länge des Arbeitstages können die Arbeiter*Innen auch im Bereich der Gefahren am Arbeitsplatz ihre Interessen nur gemeinsam wirksam vertreten. Für den/die Einzelne/n ist es – außer in den offensichtlichsten Fällen – unmöglich, alle mit der eigenen Tätigkeit verbundenen Gefahren zu erkennen und objektiv zu beurteilen. Diese Schwierigkeit nimmt mit der Komplexität des Produktionsprozesses und dem Grad der Anwendung der Wissenschaft in diesem Prozess zu. Darüber hinaus zeigt die historische Erfahrung, dass Fälle, in denen das Kapital spontan im Interesse des Gesundheitsschutzes der Arbeiter*Innen handelt, selten sind und in der Regel durch besondere Umstände wie Arbeitskräftemangel bedingt sind. Wenn man es sich selbst überlässt, zerstört das Kapital die Arbeitskraft, wie die Beispiele der kapitalistischen Entwicklung im globalen Süden immer wieder zeigen. Wie die Verkürzung des Arbeitstages war auch die allmähliche Einführung von Normen für Sicherheit und Gesundheitsschutz in den Arbeitsstätten in den Industrieländern zum Teil den zahllosen Opfern der Arbeiter*Innen und den blutigen Kämpfen zu verdanken, die sie kollektiv über ihre eigenen Organisationen geführt haben, und zum Teil das Ergebnis staatlicher Interventionen.29
Einerseits wurden solche Interventionen von der Arbeiter*Innenklasse erzwungen, aber sie hatten auch ein eigenes Motiv. Der Staat als „der ideelle Gesamtkapitalist“ muss für die allgemeinen Bedingungen der Kapitalakkumulation auf seinem Territorium und die Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft auf internationaler Ebene sorgen. Diese Aspekte liegen zum Teil außerhalb des Blickfelds der einzelnen Kapitalisten, die sich in erster Linie auf das Wohlergehen ihres individuellen Kapitals konzentrieren. In verschiedenen Situationen können dieses allgemeine Interesse der Akkumulation und die Interessen der einzelnen Kapitale (oder Wirtschaftszweige) in Konflikt geraten. Wenn zum Beispiel die langfristige Reproduktion der Arbeitskraft auf einem bestimmten Qualitäts-, Qualifikationsniveau usw. gefährdet ist, kann der Staat gezwungen sein, gegen die Interessen der einzelnen Kapitale einzugreifen – mit Hilfe von Gesetzen, Polizei usw. –, um die Bedingungen für Reproduktion zu stabilisieren. Es gibt weder eine Garantie dafür, dass er dies tun wird, noch dafür, dass die Intervention ausreichend oder dauerhaft sein wird. In einer kapitalistischen Wirtschaft ist der Staat jedoch das einzige anerkannte Organ, das so etwas tun kann. Wie der einzelne Kapitalist, so kalkuliert auch der Staat und wägt verschiedene Alternativen ab, allerdings in einem viel größeren Maßstab. Sein konkretes Handeln hängt letztlich vom Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit ab, vom Ausgang der Fraktionskonflikte innerhalb der Kapitalistenklasse, von der Stellung des Landes in der internationalen Arbeitsteilung und Konkurrenz, aber auch von rein zufälligen Umständen. Das historische Ergebnis ist jedoch eindeutig: Die Verkürzung des Arbeitstages musste dem Kapital durch Gesetze aufgezwungen werden, die das Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfes waren. Sie ging Hand in Hand mit den ersten Maßnahmen zum Schutz der Arbeiter*Innen vor gefährlichen Bedingungen am Arbeitsplatz.30
Ein wichtiger Teil des kollektiven Kampfes für sicherere Arbeitsplätze war die Aneignung der Wissenschaft durch die Arbeiter*Innenklasse. Sie musste sich nicht nur mit den Chefs, sondern auch mit Betriebsärzt*Innen oder Arbeitsinspektor*Innen auseinandersetzen, die das vorhandene Wissen über die Schädlichkeit von Arbeitsfaktoren verschwiegen, verharmlosten oder falsch interpretierten. Dies galt insbesondere für giftige und krebserregende Stoffe, deren Auswirkungen erst nach Jahrzehnten sichtbar werden. In solchen Fällen machten die Arbeiter*Innen die praktische Entdeckung, dass sie auf wissenschaftliche Informationen nicht verzichten können und zu autodidaktischen Expert*Innen werden müssen. Gleichzeitig wehrten sie sich gegen die Schranken der bestehenden Arbeitsteilung und suchten Verbündete in den Reihen der technischen Fachleute (z. B. die „Planer*Innen“ des Produktionsprozesses) oder der akademischen Forscher*Innen. Letztere können durch ihre arbeiterfreundliche politische Einstellung oder einfach durch den Wunsch, wissenschaftliche Erkenntnisse zu verbreiten, motiviert gewesen sein. Dieser Front aus Arbeiter*Innen und Intellektuellen standen Legionen von gut bezahlten Anwält*Innen und Expert*Innen gegenüber, die entschlossen waren, die Interessen des Kapitals zu schützen.
Eine Voraussetzung für die Behandlung von Fragen der Gesundheit und Sicherheit ist, dass die Arbeiter*Innenklasse ihre eigene Verletzlichkeit erkennt. So wie nicht jede/r Raucher*In an Krebs erkrankt, sind auch nicht alle Menschen gleichermaßen von Gefahren am Arbeitsplatz betroffen. An jedem Arbeitsplatz finden wir Menschen mit unterschiedlicher körperlicher und geistiger Belastbarkeit, unterschiedlichem Alter, unterschiedlichem Geschlecht, unterschiedlicher genetischer Veranlagung und unterschiedlicher gesundheitlicher Vorgeschichte. Außerdem können sie in unterschiedlichem Maße schädlichen Einflüssen ausgesetzt sein. Solange es eine Mentalität des „Das kann mir nicht passieren“ oder „Das betrifft mich nicht“ gibt, ist ein gemeinsamer Kampf für sicherere Bedingungen nicht möglich. Der Weg zur Einheit führt über erbitterte Konflikte innerhalb der Arbeiter*Innenklasse – gegen die Narren, die sich selbst für Maschinen halten und über die Schwäche der anderen lachen.31
Das Kapital ist tote Arbeit. Seine Funktionäre rechnen mit den menschlichen Opfern des Produktionsprozesses genauso wie mit den Abfällen aus der Verarbeitung von Rohstoffen. Ein solches Kalkül ist der lebendigen Arbeit fremd. Ihre Devise ist der Schutz der Arbeitskraft, die Verhinderung ihrer Schädigung in größtmöglichem Umfang.
Das neue Coronavirus kann nicht auf eine bloße Gefahr am Arbeitsplatz reduziert werden, obwohl es auch eine solche ist.32 Eine Pandemie wäre schlussendlich keine Pandemie, wenn sie nur Arbeitsstätte betreffen würde. Dennoch sind wir der Meinung, dass unsere Anmerkungen zum Verhältnis der Arbeiter*Innenklasse zu Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes und zu den notwendigen Konflikten in diesem Bereich eine nützliche Orientierungshilfe sein können, um zur aktuellen Situation Stellung zu nehmen.
Trotz der anfänglichen Informationszensur erkannten Ärzt*Innen und Wissenschaftler*Innen schnell, dass SARS-CoV-2 eine ernsthafte Bedrohung für die menschliche Gesundheit darstellt und eine globale Pandemie auslösen könnte. Während der ersten Ausbruchswelle im Jahr 2020 konnten wir jedoch dieselbe Dynamik der Beziehung zwischen Arbeit, individuellem Kapital und Staaten beobachten, die wir in den vorherigen Abschnitten beschrieben haben.33 Die Unternehmensleitungen versuchten, die Produktion so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, bis sie durch die Regierungen oder durch Aktionen der Arbeiter*Innen zum Rückzug gezwungen wurden. In Italien kam es zu spontanen Streiks, anderswo war es eher eine unkoordinierte Flucht der Arbeiter*Innen in bezahlten Urlaub oder Krankheitstage, die auch durch Schulschließungen und das Fehlen anderer Kinderbetreuungsmöglichkeiten bedingt waren. Es gab jedoch auch Ausnahmen. Es sei daran erinnert, dass die Funktion des Staates als Garant für die allgemeinen Rahmenbedingungen der Akkumulation die Abwägung verschiedener Alternativen beinhaltet. Nicht alle Staaten zogen den Schutz der Arbeitskraft (oder der Bevölkerung an sich) dem Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit vor. Im Februar 2020 sprach der britische Premierminister Boris Johnson davon, dass Großbritannien die weltweit führende Kraft unter den offenen Volkswirtschaften werden soll. Viele Wissenschaftler*Innen, Forscher*Innen und Befürworter*Innen der öffentlichen Gesundheit waren schockiert darüber, dass die Regierung dem „Schutz der Wirtschaft“ Vorrang vor dem „Schutz der Bevölkerung“ einräumte. Der katastrophale Verlauf der ersten Welle veranlasste Großbritannien jedoch, später strengere Maßnahmen zu ergreifen.
Mit dem Aufkommen von Impfstoffen wurde den Ländern (insbesondere den wohlhabenderen) ein relativ kostengünstiges Instrument an die Hand gegeben, das mehrere Funktionen erfüllt. Erstens ermöglichte es den Regierungen, die ursprünglich die Wirtschaft der Gesundheit vorzogen, sich als aktive Kämpfer gegen die Pandemie zu positionieren. Zweitens schien es unter den Bedingungen des ursprünglichen Coronavirus oder der Alpha-Variante (die „Britische“), dass die Impfung die Pandemie vollständig unterdrücken und eine schnelle „Rückkehr zur Normalität“ gewährleisten würde. In dieser Hinsicht steht die Betonung der Impfung im Einklang mit mehreren Zielen des Staates: Gewährleistung stabiler Bedingungen für die Reproduktion der Arbeitskraft,34 Ermöglichung eines reibungslosen Funktionierens der Wirtschaft und nicht zuletzt Verbesserung der Position des Staates im internationalen Wettbewerb – denn wer als Erster alle geimpft hat, wird zu den Ersten gehören, die aus dem durch die Pandemie verursachten Einbruch und Zusammenbruch der Versorgungskette herauskommen. Das Ziel der Impfpolitik ist also nicht eine Art „Disziplin um der Disziplin Willen“. Im Gegenteil, sie verfolgen konkrete, materielle Ziele, die sich aus der Funktion des Staates als „kollektiver Kapitalist“ erklären lassen. Große Teile des Kapitals, die durch die Wirtschaftsverbände vertreten werden, haben ebenfalls einer auf diese Weise zu rechtfertigenden Strategie zugestimmt, umso mehr, als sie das Kapital nichts kostet.
Wie bei den Staaten können wir auch hier nicht die verschiedenen Reaktionen der globalen Arbeiter*Innenklasse auf die Pandemie untersuchen. Wir werden uns darauf konzentrieren, einige der Momente, die uns wichtig erscheinen, mit der Tradition der Kämpfe für sicherere Arbeitsplätze zu vergleichen, die wir bereits beschrieben haben.
Die ersten unmittelbaren Reaktionen der Arbeiter*Innen richteten sich danach, wie ernst die Risiken in ihrem Land zu sein schienen und welche Maßnahmen der Staat ergriff. Sie wurden sicherlich auch durch das allgemeine politische Klima und das Machtgleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital unter den gegebenen Umständen beeinflusst. Dementsprechend sahen wir (sehr selten) Streiks mit dem Ziel, „proletarische Lockdowns“ durchzusetzen, Kämpfe für die Verfügbarkeit persönlicher Schutzausrüstung (vor allem im Gesundheitswesen), individuelle, unkoordinierte, aber massenhafte Reaktionen (bezahlter Urlaub, Krankheitsurlaub) oder einfach Abwarten und Befolgen der Anweisungen der Behörden.
Es mag verlockend sein, „Skeptiker*Innen“, die „selbstständige Forschung treiben“ und sich „alternativen“ Ansichten über Impfungen und die Pandemie hingeben, als Fortführung der Tradition zu betrachten, die wir bereits erörtert haben: die Aneignung der Wissenschaft durch die Arbeiter*Innenklasse, das Aufbrechen der Schranken in der Arbeitsteilung, die Bündnisse mit Wissensarbeiter*Innen und Wissenschaftler*Innen. Es gibt jedoch einige Unterschiede. Einer ist trivial, spricht aber Bände, zwei andere sind ganz grundlegend. Der offensichtliche Unterschied besteht darin, dass sich die historische Tradition der Kämpfe für sicherere Arbeitsplätze im Allgemeinen auf die Bekämpfung von Behauptungen über die Ungefährlichkeit bestimmter Gefahren konzentriert hat. Im Gegensatz dazu versuchten die „Skeptiker*Innen“, Covid zunächst als Fiktion, dann als Grippe und schließlich als eine Krankheit abzutun, die zwar möglicherweise schwerwiegend ist, aber mit Vitaminen oder Tierarzneimitteln behandelt werden kann.
Die grundlegenden Unterschiede bestehen darin, dass hier nicht von einer proletarischen Aneignung der Wissenschaft die Rede sein kann, und dass es keine Brücken zwischen der Arbeiter*Innenklasse und der wirklichen wissenschaftlichen Gemeinschaft gibt.
Erstens stimmen alle einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse darin überein, dass es sich bei Covid um eine schwere Krankheit handelt. Alle Erkenntnisse sprechen auch dafür, dass die Massenimpfung zum jetzigen Zeitpunkt und unter Berücksichtigung aller Risiken die beste Maßnahme zum Schutz der Gesundheit ist. Dies gilt zumindest so lange, bis ausgereiftere Impfstoffe zur Verfügung stehen, die auf bestimmte Varianten zugeschnitten oder gegen die unterschiedlichsten Varianten gleichermaßen wirksam sind.
In Anbetracht der wissenschaftlichen Erkenntnisse können wir auch die Haltung einiger Arbeiter*Innen (die in der Slowakei leider recht zahlreich sind) nicht akzeptieren, dass Covid für sie kein Risiko darstellt und dass es damit für sie erledigt ist. Eine solche Haltung entspricht ganz der oben beschriebenen „Männer aus Stahl“-Mentalität, die einen Kampf für sicherere Arbeitsplätze oder Gemeinschaften unmöglich macht. Ja, die relativen Risiken sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich, sei es beim Rauchen, beim Rattengift oder bei ionisierender Strahlung. Nicht jede/r wird krank, nicht jede/r erkrankt schwer oder hat bleibende Schäden, nicht jede/r stirbt. Aber genau das ist der Punkt: Niemand kennt seinen/ihren Risikograd genau und im Voraus. Es liegt im Interesse der Arbeiter*Innenklasse als kollektives Subjekt, sich bei der Bewertung des Risikos an denjenigen zu orientieren, die am meisten gefährdet sind. In diesem Fall sind das nicht nur die älteren Menschen, sondern auch diejenigen unter uns, die an Diabetes oder anderen chronischen Krankheiten oder an Fettleibigkeit oder… erkrankt sind.
Und zweitens sind die von den „Skeptiker*Innen“ zitierten „Expert*Innen“ im Großen und Ganzen Verkäufer*Innen von Nahrungsergänzungsmitteln und Scharlatane, die nach medialer Aufmerksamkeit gieren und Teil einer millionenschweren Industrie in der Weltwirtschaft sind. Nebenbei bemerkt handelt es sich dabei meist um Menschen mit rechten bis rechtsextremen Ansichten.
In der Frage der Impfung hat die Arbeiter*Innenklasse derzeit die gleichen Interessen wie der Staat und das Kapital.35 In dieser Hinsicht unterscheidet sich die derzeitige Situation nicht von anderen Impfungen oder von der Einhaltung grundlegender Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz. Das bedeutet nicht, dass der Antagonismus verschwunden ist, auch nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Pandemie. Aber die Arbeiter*Innenklasse hat nichts zu gewinnen, wenn sie die bestehenden Proteste gegen strengere Maßnahmen und den Druck zur Impfung unterstützt. Im Gegenteil, sie sollte ihre Interessen klar und in der Tradition der proletarischen Prävention artikulieren.
Sie kann sich von den Lehrer*Innen in Chicago inspirieren lassen, nicht von den verwirrten Sektionen der Hafenarbeiter*Innen von Triest. Die Chicagoer Lehrer*Innengewerkschaft befürwortet die Impfung, forderte aber gleichzeitig Anfang 2022 eine sichere Rückkehr zu den Schulen: die Festlegung klarer Kriterien dafür, wann zum Fernunterricht übergegangen werden kann, die Bereitstellung von Schutzausrüstung (FFP2-Masken) für alle Schüler*Innen auf Kosten des Staates, obligatorische Tests und kostenlose Heimtests, die Einrichtung von Impfzentren in Schulen. In verschiedenen europäischen Ländern wären viele dieser Forderungen irrelevant, da die Maßnahmen schon lange eingeführt sind. Für uns geht es aber nicht um ihren konkreten Inhalt, sondern um die Kombination von möglichst vielen Impfungen mit anderen Präventionsmaßnahmen. In einem Land wie der Slowakei könnten die folgenden Forderungen in ähnlicher Weise aufgestellt werden:
Forderungen wie diese beziehen sich auf die unmittelbaren Folgen der Pandemie. Es wäre jedoch ein Fehler, nicht darüber hinauszugehen, denn es gibt allgemeinere und wichtigere Schlussfolgerungen, die die Arbeiter*Innenklasse aus der Pandemie ziehen muss. Vor allem haben die massiven Lockdowns gezeigt, welch kleiner Teil der gesamten gesellschaftlichen Arbeit „essenziel“ oder notwendig ist, damit die Gesellschaft sich reproduzieren kann. In den Augen aufmerksamer Beobachter*Innen stellten die Ausnahmezustände die bestehende Arbeitsteilung in Frage und warfen die Frage auf, wie sie anders organisiert werden könnte.
Natürlich kann das Funktionieren des Kapitalismus während der Pandemie nicht die Quelle von Rezepten für die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit in einer kommunistischen Gesellschaft sein. Viele wirklich notwendige Tätigkeiten, die unmittelbar mit der Reproduktion der Arbeitskraft zusammenhängen, wurden aus dem gesellschaftlichen Bereich zurück in den Haushalt verlagert oder ganz ersatzlos gestrichen – zum Beispiel in der Kinderbetreuung und Erziehung, aber auch in der Pflege ganz allgemein. Umgekehrt wurden auch Tätigkeiten, die in einer Gesellschaft ohne Waren-Geld-Kreislauf nicht benötigt würden (z.B. die Arbeit von Kassierer*Innen) oder die aus anderen Gründen eingeschränkt werden müssten (z.B. die Produktion von Autos), während der Schließungen aufrechterhalten. Die Kategorie der „notwendigen Arbeit“, wie sie durch staatliche Maßnahmen definiert wurde, war offensichtlich durch das gekennzeichnet, was in einer kapitalistischen Gesellschaft notwendig ist oder zumindest als notwendig angesehen wird. Ungeachtet dessen war die Diskrepanz zwischen sozial kritischer Arbeit und dem Rest der Wirtschaftstätigkeit offensichtlich. Dies gilt nicht nur für sektorübergreifende Vergleiche, sondern auch auf der Ebene des/der Einzelnen und seiner/ihrer täglichen Arbeit. Die Umwandlung von Büroarbeit in Homeoffice hat beispielsweise vielen Büroarbeiter*Innen vor Augen geführt, wie viel Zeit sie zuvor im Stau vergeudet hatten oder wie nutzlos ihre unmittelbaren Vorgesetzten werden, wenn man nicht mehr einstempeln muss. Andererseits konnten diejenigen, die sich in der Position des/der „unverzichtbaren Arbeiters/Arbeiterin“ befanden, ihre paradoxe Lage klar erkennen. Ihre Arbeit war es, die eine ganze Gesellschaft über Wasser hielt. Doch obwohl diese Gesellschaft sie als „Held*Innen“ feierte, blieben ihre Löhne und Arbeitsbedingungen am unteren Ende des Arbeitsmarktes – und wir meinen nicht nur die Beschäftigten im Gesundheitswesen.
Die Quarantänepolitik der Staaten hatte also eine unbeabsichtigte Folge: Sie lieferte einen fast greifbaren Beweis für die Möglichkeit, die Arbeitszeit durch Umverteilung gesellschaftlich nützlicher Arbeit deutlich zu reduzieren. Gleichzeitig haben sie gezeigt, dass selbst erhebliche Veränderungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Ressourcenallokation fast über Nacht möglich sind. Diese wichtigen politischen Lehren für die Arbeiter*Innenklasse gehen jedoch den „Bewegungen“ verloren, die sich in Protesten gegen Regelungen erschöpfen, die im Großen und Ganzen einfache Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit sind.
Jüngste Beispiele sind das Interview mit dem italienischen Kollektiv Wu Ming, ein Bericht über eine Hamburger Protestaktion von Angry Workers und das beigefügte Flugblatt, der Text „Nein zur Zwangsimpfung!“ der Magdeburger Gruppe Zusammen kämpfen oder ein Artikel der anarchistischen Gruppe Black Flag Sydney. Der Beitrag des griechischen Kollektivs Antithesi kommt unserer Position sehr nahe, aber sein Schwerpunkt liegt mehr auf dem „Leugnen“ als auf den Themen, um die es uns hier geht. Während wir diesen Artikel fertigstellten, veröffentlichte der Antifada-Podcast ein Interview mit einem der Mitautoren des oben genannten Beitrags. In vielerlei Hinsicht stimmen seine Kommentare mit unserer Position überein. ↩
Einen schnellen Überblick über die in den EU-Ländern geltenden Vorschriften finden Sie im Projekt Re-open EU. In Westeuropa haben zum Beispiel die Niederlande und Österreich im Dezember 2021 strengere Maßnahmen eingeführt. ↩
Während der Ausbreitung der vorherigen Varianten befürwortete ein Teil der Linken eine „Zero Covid, die darauf abzielt, das Virus durch Quarantänen und Ausgangsbeschränkungen auszurotten. Seit dem Auftreten der Omicron-Variante scheint diese Strategie unpraktikabel geworden zu sein. ↩
Die Tschechische Republik hat ihre mobile App für den Impfnachweis sogar „Tečka“ genannt, d. h. „Punkt“. ↩
Somit lassen wir nicht gelten, dass jede/r, der/die „für Impfungen“ ist, auch „gegen Lockdown“ ist. Gleichzeitig ist es nicht so, dass diejenigen, die „gegen die Schließung“ sind, einfach auf der Seite der Wirtschaft stehen. Es sollte nicht vergessen werden, dass starke Bewegungseinschränkungen der Arbeiter*Innenklasse, insbesondere Frauen und Kindern (aufgrund häuslicher Gewalt), aber auch den ärmsten Teilen der Klasse, die in die kleinsten und armseligsten Wohnungen gepfercht sind, erheblich schaden. Es versteht sich von selbst, dass Lockdowns auch der psychischen Gesundheit abträglich sind. ↩
Der Covid-Impfstoff wird manchmal mit anderen, angeblich viel zuverlässigeren Impfstoffen verglichen, die vor anderen, angeblich viel schwerwiegenderen Krankheiten schützen. Betrachten wir ein bekanntes Beispiel. Die Tschechoslowakei wurde berühmt als das erste Land, das die Kinderlähmung oder Poliomyelitis ausgerottet hat. Kurz nach Beginn der Massenimpfkampagne im Jahr 1959 schätzte der Epidemiologe Vilém Škovránek die Wirksamkeit des Impfstoffs auf „nur“ 66-72 %. Bevor der Impfstoff zur Verfügung stand, führten zudem „nur“ 0,5 % der Infektionen zu den Lähmungen, die man heute meist mit Polio in Verbindung bringt. Die Mehrheit der infizierten Kinder (bis zu 72 %) zeigte auch ohne Impfung keine Symptome. ↩
Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht für einen noch besseren Zugang zu Impfstoffen einsetzen sollten, sowohl weltweit als auch auf der Ebene der einzelnen Länder, einschließlich der Industrieländer. Wir werden auf diesen Punkt zurückkommen. ↩
Jüngste Vorabdrucke von Studien liefern unterschiedliche Schätzungen über das Ausmaß dieses Schutzes – von über 30 bis 70 %. Es ist jedoch keine relevante Studie aufgetaucht, die zeigt, dass der Impfstoff überhaupt nicht vor einer Infektion schützt. ↩
The Atlantic zitiert die kanadische Impfärztin Noni MacDonald: „Hätten wir alle über 18-Jährigen auf der Welt mit mindestens einer Dosis des COVID-Impfstoffs geimpft, wäre Omicron vielleicht nicht passiert.“ ↩
Wie es in dem Text von Antithesi heißt: „Niemand hat eine persönliche Beziehung zu einer ansteckenden Krankheit“. ↩
Vor diesem Hintergrund: nach Erfahrungen mit Medikamenten- oder Lebensmittelskandalen aus der Vergangenheit; nach tagtäglichen Erfahrungen mit der Gleichgültigkeit des Kapitals gegenüber der Gesundheit; und oft in einer Flut von „garantierten“ Informationen, die von Geschäftemacher*Innen und selbsternannten Expert*Innen angeboten werden, die dank der Pandemie Aufmerksamkeit an sich reißen können. ↩
Es sollte hinzugefügt werden, dass dieser Trend anhält und die Slowakei mit ihrem Plan der „Stratifizierung“ der Krankenhäuser (d.h. ihrer „Rationalisierung“ durch organisatorische Umstrukturierungen und Kürzungen) nicht allein ist. ↩
Länder in Westeuropa, die relativ hohe Impfraten haben, aber bereits von der hochansteckenden Omicron-Variante in vollem Umfang betroffen sind, hatten in den letzten Wochen mit Schwierigkeiten anderer Art zu kämpfen. Aufgrund der vorgeschriebenen Quarantänen fehlt es den Krankenhäusern an Personal. Dieses Problem hängt nicht in erster Linie mit der Zunahme schwerer Fälle zusammen, sondern mit der Zunahme von Infektionen (auch asymptomatischen) und Kontakten mit infizierten Personen. Da die Auffrischungsimpfung aber auch – zumindest teilweise – vor einer Ansteckung schützt, ist es trotzdem besser, wenn möglichst viele Menschen geimpft sind. Und noch wichtiger: Je weniger schwere Fälle es gibt, desto besser. Dazu tragen Impfstoffe erheblich bei. Wie sehr, wird sich bald zeigen, wenn die Omicron-Variante in der Slowakei zuschlägt, wo nur etwa die Hälfte der Bevölkerung mindestens zwei Dosen erhalten hat. ↩
Dabei geht es nicht nur um die Reproduktion der Arbeitskraft. Diejenigen, die zu jung, zu alt oder zu krank sind, um zu arbeiten, werden auch im Kapitalismus medizinisch versorgt, obwohl dies keineswegs selbstverständlich ist. ↩
„Während die kapitalistische Produktionsweise in jedem individuellen Geschäft Ökonomie erzwingt, erzeugt ihr anarchisches System der Konkurrenz die maßloseste Verschwendung der gesellschaftlichen Produktionsmittel und Arbeitskräfte, neben einer Unzahl jetzt unentbehrlicher, aber an und für sich überflüssiger Funktionen.“ (Siehe Kapitel 15 des Kapital, Band I.) ↩
So heißt es zum Beispiel in der Einleitung des Flugblatts des Hamburger Laien-Clubs: „Heute ist es die Pflicht, sich impfen zu lassen, morgen ist das Rauchen, das fette Essen, mangelnde Bewegung die eigene „Schuld“. Das jeweils aus Eigeninteresse einfach zu tun, reicht natürlich nicht, es muss kontrollierbar sein: Impfpass, Fitnesstracker und dergleichen mehr. Behandlungsverweigerung, Kostenbeteiligung, individualisierte Krankenkassentarife, so wird es weitergehen.“ ↩
Es ist bemerkenswert, wenn auch keineswegs überraschend, dass die Fälle, in denen der Staat bei der Durchsetzung epidemiologischer Maßnahmen am brutalsten vorgegangen ist – nämlich in verarmten Roma-Siedlungen –, von denjenigen, die gegen die Maßnahmen in der Slowakei protestieren, völlig unbeachtet bleiben. ↩
Diese Meinung ist unter den „Leugner*Innen“ weit verbreitet. Seit ihrer Mobilisierung protestiert dieses Lager gegen jegliche „Freiheitsbeschränkung“, die mit dem Kampf gegen die Pandemie einhergeht. Für sie ist der Widerstand gegen die Impfung nur eine weitere Schlacht in diesem Krieg. Da wir hier keine Zeit damit verschwenden wollen, zu beweisen, dass die Pandemie existiert und nicht einfach ignoriert werden kann, und da wir die Bedeutung nicht-pharmazeutischer Maßnahmen zur Rettung von Menschenleben als hinreichend bewiesen betrachten (siehe z.B. 1, 2), werden wir diese Linie nicht weiter verfolgen. Wir gehen davon aus, dass die Befürworter*Innen der vier Thesen die Notwendigkeit von zumindest einigermaßen strengen Maßnahmen akzeptieren. ↩
Diese Option ist auch besser mit dem Teil der ersten These vereinbar, wonach die Staaten zu viel Gewicht auf die Impfung zu Lasten anderer Maßnahmen legen. Die dritte These fügt hinzu, dass sie dies tun, weil ihr Ziel nicht in erster Linie der Schutz von Leben und Gesundheit ist, sondern die Disziplinierung. Auch diese Sichtweise lehnen wir als falsch ab, finden sie aber etwas rationaler als die übliche „Leugnung“. ↩
Es ist erwähnenswert, dass Investitionen in die Forschung und Entwicklung von Impfstoffen für kapitalistische Pharmaunternehmen seit langem weniger attraktiv sind als Investitionen in die Forschung und Entwicklung von Medikamenten. ↩
Das Pfizer-BioNTech-Konsortium erhielt einen Zuschuss von der deutschen Regierung. Johnson & Johnson, Moderna und das Konsortium von AstraZeneca mit der Universität Oxford sowie einige andere (weniger erfolgreiche) private Projekte wurden alle durch das US-Programm Operation Warp Speed kofinanziert. Im Falle des Vaxzevria-Impfstoffs (Astra Zeneca-Oxford) kamen 97 % der Mittel für die gesamte Entwicklung angeblich von Steuerzahlern und aus wohltätigen Quellen. Es sei darauf hingewiesen, dass selbst von staatlichen Einrichtungen entwickelte Impfstoffe wie der russische Sputnik V eine Gewinnquelle (für den Staat) darstellen können – durch internationalen Handel oder Lizenzgebühren. ↩
Der Pharmakonzern AstraZeneca hatte sich verpflichtet, ihren Impfstoff während der Pandemie ohne Gewinn zu verkaufen, änderte dann aber ihre Meinung (im November 2021). Johnson & Johnson planen ebenfalls, den Impfstoff mit Gewinn zu verkaufen. ↩
Es ist jedoch anzumerken, dass es in einigen Ländern starke Unterstützung für strengere Maßnahmen gibt – im Sinne einer Impfpflicht für bestimmte Altersgruppen, Berufe oder ganze erwachsene Bevölkerungsgruppen. Nach Daten vom November 2021 befürwortet eine Mehrheit der britischen Bevölkerung eine obligatorische dritte Dosis für Risikogruppen, bei dem Nützen von öffentliche Verkehrsmittel oder in den Restaurants. Das Gleiche gilt für Deutschland und Österreich. In Italien befürworten bis zu 71 % der Bevölkerung eine obligatorische Impfung für alle. Natürlich sagt die Unterstützung durch die Mehrheit nichts darüber aus, ob eine Maßnahme gerechtfertigt ist oder nicht. Die Daten sind jedoch ein nützliches Korrektiv zu der Vorstellung von der vorherrschenden öffentlichen Meinung, die man sich nur aufgrund der Bilder der Proteste machen kann. ↩
Ein Beispiel für eine wirklich drakonische Maßnahme des vergangenen Jahres ist das neue britische Gesetz, das die Befugnisse der Polizei erheblich ausweitet und das Recht auf kollektiven Protest einschränkt. So zielt der Abschnitt, der „laute“ Proteste verbietet, speziell auf radikale Gewerkschaften wie United Voices of the World ab, deren Beschallungsanlagen Streikbrecher*Innen davon abhalten, die Streikpostenkette zu überschreiten. Wir halten es für sinnvoller, Energie für Proteste gegen diese Art von Maßnahmen aufzubringen, als sich mit denjenigen zu solidarisieren, für die ein Stich in die Schulter ein unüberwindbares Problem darstellt. ↩
Diese Notwendigkeit ist umso dringlicher, als viele Länder – auch solche mit hohen Impfraten – Impfstoffe verwenden, die gegen die Omicron-Variante nicht sehr wirksam sind. Dies ist beispielsweise bei Chinas Sinovac-Impfstoff der Fall, aber auch bei mehreren anderen Impfstoffen gibt es Probleme. Bislang scheinen die Impfstoffe Comirnaty (Pfizer-BioNTech) und Spikevax (Moderna), die beide auf der mRNA-Technologie basieren, den besten Schutz zu bieten. ↩
Misstrauen gegenüber der Regierung, Pharmaunternehmen oder den Medien wurde von 21 % der Arbeiter*Innen als Grund genannt. Dies war der vierthäufigste Grund. Übrigens sind Angst und Besorgnis an sich unseres Erachtens kein ausreichender Grund, um die Durchsetzung epidemiologischer Maßnahmen zu lockern. Schließlich hat auch die Einführung von Masken zu (meist unbegründeten) Sorgen über deren gesundheitliche Auswirkungen geführt. Siehe auch die Daten der britischen Statistikbehörde zum Thema Impfverweigerung vom Frühjahr 2021. ↩
Dies beschränkt sich nicht auf Faktoren, die im Produktionsprozess wirken. So kann beispielsweise arbeitsbedingter Stress auch außerhalb der Arbeitszeit anhalten und Schäden verursachen. Oder nehmen wir Umweltfaktoren: Stahlarbeiter*Innen sind (unter anderem) schädlichen Emissionen nicht nur am Arbeitsplatz ausgesetzt, sondern auch außerhalb (zusammen mit ihren Familien und anderen), wenn sie in der Nähe ihres Arbeitsplatzes wohnen. In ähnlicher Weise können schädliche Umweltfaktoren, mit denen die Arbeiter*Innenklasse aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft eher konfrontiert ist (z. B. überfüllte Wohnungen, Leben an Orten der Umweltzerstörung, schlechte Trinkwasserqualität, häufigeres Auftreten von Infektionskrankheiten aufgrund schlechter sanitärer Verhältnisse usw.), mit Gefahren am Arbeitsplatz interagieren. So ist beispielsweise Silikose, die weltweit häufigste Berufskrankheit, mit einem deutlich höheren Risiko für Tuberkulose, eine bakterielle Krankheit, verbunden. Im Falle von Covid ist auch die soziale Stellung von Menschen aus der Arbeiterklasse eine Quelle für spezifische Formen der Anfälligkeit für Infektionen und schwere Krankheiten. ↩
Unserer Meinung nach steht diese Art von proletarischer Mentalität in engem Zusammenhang mit einer Reihe anderer Phänomene – dem Kult des Produktivismus, der Selbstaufopferung und der Auffassung vom Job als Berufung, aber auch mit patriarchalischen, machohaften Vorstellungen über die Arbeitsteilung. ↩
Die generelle Rücksichtslosigkeit des Kapitals und die daraus resultierende Notwendigkeit, elementare Sicherheitsregeln durch staatliche Eingriffe durchzusetzen, sowie die Notwendigkeit, deren Einhaltung ständig zu erzwingen, lässt sich gut an der Sphäre des Konsums, zum Beispiel von Lebensmitteln oder Arzneimitteln, und den damit verbundenen Skandalen und Skandälchen veranschaulichen. ↩
Bereits das allererste Fabrikgesetz in England (1802) enthielt bescheidene Auflagen betreffend Belüftung in Fabriken. ↩
Ein klassisches Bild eines solchen Konflikts findet sich in dem italienischen Film Der Weg der Arbeiterklasse ins Paradies von 1971. Wir möchten hier betonen, dass der Kommunismus nichts mit dem Bild des Arbeiters als Mann aus Stahl zu tun hat. Die Fragilität des Gebrauchswerts der Ware „Arbeitskraft“ steht im Mittelpunkt der Marxschen Theorie, und seine Kritik an der Ausbeutung und der Willkür des Kapitals ist ohne sie nicht richtig zu verstehen. In dem Kapitel des Kapitals über den Arbeitstag sagt der Arbeiter zum Kapitalisten: „Nun gut! Ich will wie ein vernünftiger, sparsamer Wirt mein einziges Vermögen, die Arbeitskraft, haushalten und mich jeder tollen Verschwendung derselben enthalten. Ich will täglich nur soviel von ihr flüssig machen, in Bewegung, in Arbeit umsetzen, als sich mit ihrer Normaldauer und gesunden Entwicklung verträgt.“ Später schreibt Marx, dass das Kapital „die Zeit für Wachstum, Entwicklung und gesunde Erhaltung des Körpers“ usurpiert und „die Zeit, erheischt zum Verzehr von freier Luft und Sonnenlicht“, und dem Arbeiter den „gesunden Schlaf“ raubt. Er charakterisiert die Verausgabung der Arbeitskraft im Kapitalismus als „krankhaft, gewaltsam und peinlich“. Das Kapital, so argumentiert Marx, „ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.“ ↩
Zum relativen Risiko eines schweren Verlaufs in verschiedenen Berufen siehe eine Studie in The Lancet. ↩
Wir sind uns darüber im Klaren, dass es zwischen den einzelnen Ländern erhebliche Unterschiede in der Vorgehensweise gibt. Sie zu erklären, würde jedoch sehr viel mehr Arbeit erfordern. Unser Ziel ist es nicht, eine allgemeingültige Geschichte zu beschreiben oder alle einzelnen Geschichten aufzulisten, sondern vielmehr einige der Merkmale des Ablaufs der Ereignisse zu erfassen, die einer Reihe von europäischen Ländern gemeinsam waren. ↩
Dabei geht es nicht nur um den Schutz des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter*Innen selbst. Die Pandemie erschwert die normale „Zirkulation“ der Arbeitskraft auch auf andere Weise. So binden beispielsweise ältere (und nicht mehr arbeitende) Menschen, die krank werden oder sich isolieren müssen, die Arbeitskraft anderer Menschen (insbesondere von Frauen) zu Hause. Eine analoge Situation ergibt sich bei Kindern, wenn Schulen und Kindergärten geschlossen werden. ↩
Ein solches wundersames Zusammentreffen von Interessen findet übrigens immer dann statt, wenn wir Brot kaufen: Wir werden davon ernährt, der Staat freut sich, dass Arbeitskraft reproduziert wird und die Volkswirtschaft floriert, unser Chef-Kapital freut sich, dass wir morgen die erwartete Leistung erbringen werden, und Kapitalist aus der Brotindustrie reibt sich die Hände, weil es einen Teil des gesamten gesellschaftlichen Mehrwerts in unserer kleinen Transaktion realisiert. Das ist kein Verrat an den Klasseninteressen, sondern der normale Gang der Dinge in einer kapitalistischen Wirtschaft. ↩